Schwaben-Gier
nicht«, meinte Braig, »andererseits deutet die Brutalität, mit der der Mörder gegen sie vorging, eher auf eine Beziehungstat hin, oder?« Er schaute fragend zu seiner Kollegin, glaubte an ihrer in Falten gelegten Stirn zu bemerken, wie es in ihr arbeitete.
Neundorf wartete mit ihrer Antwort, formulierte sie dann mit wenigen Worten. »Vielleicht hatte sie eine Beziehung.«
Braig spürte seinen hungrigen Magen, versuchte, sich auf ihr Gespräch zu konzentrieren. »Mit einem der Wirte?«
»Ihr Mann wunderte sich angeblich nicht, dass sie heute Nacht nicht nach Hause kam.«
»Zugegeben, das war seltsam. Einer der wenigen Momente, die mich an seiner Ehrlichkeit zweifeln ließen. Vielleicht war er aber auch nur durcheinander, weil sie noch nicht aufgetaucht war.«
Neundorf warf ihm einen prüfenden Blick zu. »Das hältst du für möglich?« Sie konzentrierte sich auf die Straße, trug ihre Gedanken erst einige Minuten später vor. »Wenn ich das richtig verstanden habe, ist es angeblich öfter vorgekommen, dass sie außer Haus übernachtete. Ist das wirklich notwendig, um im Umkreis von Stuttgart Nudeln zu verkaufen?«
Braig begriff sofort, was sie andeuten wollte. »Du meinst, auswärts zu übernachten, allein aus beruflichen Gründen?«
»Wie weit war sie unterwegs? Bis Tübingen, Rottweil, Crailsheim, Künzelsau? Wie viele Kilometer ist das von Oettingen entfernt?«
»Maximal hundert, hundertzwanzig. Mehr nicht.«
»Und deswegen muss sie auswärts übernachten?«
»Du hast Recht. Eigentlich muss es andere Gründe dafür geben.«
»Eine außereheliche Beziehung mit dem Wissen ihres Mannes?« Neundorf schaute kurz zur Seite, musterte die Miene ihres Kollegen.
»Wenn wir dem glauben können, was wir heute Morgen gehört haben, ist die Existenz der gesamten Nudelfabrikation fast ausschließlich ihrem Verkaufstalent zu verdanken.«
»Das heißt, Hermann Kindler toleriert diese Beziehung, um seine Ehe, die Fabrik und somit seinen Job zu retten?«
»Vielleicht ist das wirklich der Preis.«
»Wer hat sie dann aber jetzt getötet?«, fragte Neundorf. »Ihr Liebhaber, weil sie die Beziehung wieder beenden wollte?«
»Vielleicht hatte er darauf gehofft, dass sie ihre Ehe aufgibt und ganz zu ihm kommt.«
»Du meinst, sie hat ihm Hoffnung gemacht, dieses Vorhaben jetzt aber überraschend von sich gewiesen?«
Braig fuhr sich durch die Haare, massierte seine Schläfen. »Die klassische Beziehungstat. Wie aus dem Bilderbuch.«
Neundorf nickte zustimmend. »Bevor wir uns darauf einlassen, müssen wir aber erst einmal beweisen, dass sie wirklich ein Verhältnis hatte. Und den hierfür notwendigen Mann finden.«
»Vielleicht ist es einer der Gastwirte, den sie besuchte. Zuerst verkaufte sie ihm Nudeln, später wurde mehr daraus.«
»Oder umgekehrt. Weil sie ein Verhältnis mit einem Gastwirt hatte, kam sie auf die Idee, dieser Berufsgruppe Nudeln zu verkaufen. Das Angenehme mit dem Nützlichen verbindend, wie das Sprichwort sagt.«
»Mag sein«, sagte Braig. »Auf jeden Fall müsste er aus ihrem Terminkalender herauszufinden sein. Ihren Liebhaber wird sie wohl nicht nur alle sechs Monate besucht haben.«
»Wahrscheinlicher scheint mir, dass er überhaupt nicht darin auftaucht. Oder glaubst du, sie muss alle zwei, drei Tage dieselbe Wirtschaft als letzten Termin in ihren Kalender schreiben, um ihre Rendezvous nicht zu vergessen?«
Braig schaute betroffen zu seiner Kollegin, seufzte laut. »Willst du damit sagen, dass wir uns die mühsame Arbeit sparen können, die Lokale herauszuknobeln, die sie gestern besuchte?«
Neundorf zog eine Packung Bonbons aus der Tasche, bot Braig davon an. Er nahm sich eine der flachen Pastillen, wartete auf ihre Antwort.
»Wer sagt denn, dass es sich um einen der Gastwirte handelt?«
»Niemand«, gab er zu. »Es wäre nur zu schön gewesen, weil wir ihn so schneller gefunden hätten. Oder zumindest bessere Chancen gehabt hätten, ihm auf die Spur zu kommen.«
»Vielleicht traf sie ihren Liebhaber in einem der besuchten Lokale. Dann müsste der Wirt den Mann kennen.«
»Und wenn nicht?« Braig warf ihr einen fragenden Blick zu. »Was sie mit ihrem Liebhaber plante, ließ sich wohl kaum in einem Lokal verwirklichen.«
»Dann nützt es uns wirklich überhaupt nichts zu erfahren, welche Wirtschaften sie besuchte. Denn ihr Liebhaber und eifersüchtiger Mörder ist dort unbekannt.«
Sie hatten Bad Cannstatt erreicht, fuhren auf der Nürnberger Straße in Richtung Landeskriminalamt.
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