Schwaben-Gier
brüchig; sie verschluckte die Endsilben, als reiche ihre Kraft nicht dazu aus, die jeweiligen Worte komplett auszusprechen.
»Wer immer dafür verantwortlich ist, er wird dafür büßen«, versicherte Neundorf. Sie ärgerte sich im Nachhinein über ihre pathetische Ausdrucksweise, zog ihre Visitenkarte, reichte sie Monika Heller. »Wir sind aber auf Ihre Hilfe angewiesen. Vielleicht fällt Ihnen etwas ein, was für uns wichtig sein könnte. Uns interessiert alles, was mit Frau Kindler zu tun hat: Welche Lokale sie besuchte, was sie Ihnen am Sonntag erzählte, wen sie in letzter Zeit traf.« Sie zeigte auf die Karte. »Hier stehen unsere Telefonnummern. Im Amt und unterwegs. Sie können uns jederzeit erreichen.«
Sie traten aus der Wohnung, stiegen die beiden Stufen der Vortreppe hinab. Als sie den Vorgarten passierten, hörten sie das laute Schreien des Jungen in der Wohnung. Braig drehte sich um, sah, wie Monika Heller das Kind an sich drückte und die Tür ins Schloss zog. Sie hatte immer noch Tränen in den Augen, war vom Tod ihrer Arbeitgeberin aufs Tiefste erschüttert.
Als er den Kopf wieder nach vorne wandte, nahm er die seltsame Situation wahr, die sich in der ruhigen Seitenstraße inzwischen ergeben hatte. Menschen standen in Gruppen beieinander vor dem Eingang eines der Häuser, teilweise in intensive Gespräche vertieft, teilweise auch still auf irgendetwas wartend. Die gesamte Straße entlang, soweit er auch blickte, Auto auf Auto hintereinander aufgereiht. Braig sah, dass es sich vor allem um ältere, bürgerliche Menschen handelte, fühlte sich von ihrer überwiegend dunklen, teilweise festlichen Kleidung, überhaupt ihrem ganzen Auftreten irritiert. Mehrere Männer trugen Anzüge, viele Frauen waren mit anthrazitfarbenen oder dunkelblauen Kostümen bekleidet.
»Was ist da los?«, fragte er.
Neundorf blieb stehen, musterte aufmerksam die Gruppe der Wartenden. »Wenn heute Sonntag wäre, würde ich sagen, die feiern Goldene Konfirmation oder wie man das bezeichnet«, meinte sie, »Hauptsache, es hat nichts mit unserem Fall zu tun.«
Sie liefen zu ihrem Dienstwagen, kamen an einem jüngeren Paar vorbei, das zielstrebig auf die Menschenansammlung zu hielt. Neundorf blieb stehen, stellte sich den beiden in den Weg.
»Darf ich fragen, was hier für eine Veranstaltung stattfindet?«, erkundigte sie sich.
Die Frau und der Mann, beide Mitte dreißig, wie die Kommissarin schätzte, schauten sie ungläubig an. Sie war mit einem langen braunen Rock und einer weißen Jacke bekleidet, er mit einem dunklen Anzug und frisch polierten schwarzen Schuhen.
»Sie wissen nicht, dass der Engel kommt?«, hauchte der Mann. Seine Stimme war von einem andächtig-salbungsvollen Ton geprägt, als sei er zum Beten in einer Kirche.
Neundorf glaubte nicht richtig zu hören. »Der Engel?«, vergewisserte sie sich.
»Um zwölf Uhr. Wir hoffen, dass wir aufgenommen werden und dass er uns erhört.« Sie schienen es eilig zu haben, wandten sich von ihnen ab, liefen auf die Menschenmenge zu.
Braig und Neundorf starrten ihnen nach, hatten Mühe, die Antwort zu verdauen.
»Der Engel«, wiederholte Neundorf, »ja?« Sie schaute fragend zu ihrem Kollegen, die Stirn in Falten gelegt, sah Braigs Kopfschütteln.
»Wir sind nicht auf einem anderen Stern gelandet?«, meinte er.
Sie stiegen in den Dienstwagen, fuhren langsam los, den Blick auf die Menschen in der ruhigen Seitenstraße gerichtet.
»Heute ist Dienstag«, sagte Neundorf, »ein normaler Werktag. Aber um zwölf Uhr kommt der Engel.« Sie schaute in den Rückspiegel, wendete, fuhr die Straße zurück. »Das sind mindestens dreißig Leute«, überlegte sie. »Und alle warten auf den Engel. Wie weit liegt Oettingen von Stuttgart entfernt?«
Braig überlegte nicht lange. »Dreißg, fünfunddreißig Kilometer?«
Sie bogen in die Hauptstraße ein, fuhren Richtung Dorfkern. »Und jetzt?«, fragte Neundorf.
Er hatte Schwierigkeiten, sich wieder auf ihre Ermittlungen zu konzentrieren. »Wir müssen die Terminkalender Marianne Kindlers prüfen. Vielleicht können wir feststellen, wo sie gestern war.«
»Und wenn nicht?«
»Dann müssen wir uns an die Öffentlichkeit wenden. Mit ihrem Namen oder einem Foto. Auf diese Weise werden wir die meisten Gastwirte erreichen, die sie besuchte. Vielleicht wissen die sogar Bescheid, bei wem sie vorher war oder wen sie anschließend aufsuchen wollte.«
»Ob einer von denen als Täter infrage kommt?«
»Ausschließen können wir es
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