Schwaben-Gier
Braig nahm die Umgebung kaum wahr. Er wurde sich immer deutlicher bewusst, wie wenig sie bisher über Marianne Kindlers Umfeld erfahren hatten. Ihre Überlegungen basierten fast vollständig auf ungesicherten Spekulationen, wagemutigen Hypothesen, zufällig erwogenen Theorien. Wenn er genau darüber nachdachte, musste er zugeben, dass sie jeder ernsthaften Grundlage entbehrten. Selbst die banalsten Informationen, wo sich die Ermordete am Nachmittag und Abend vor ihrem Tod aufgehalten hatte, waren ihnen nicht bekannt. Er spürte das Pochen hinter seinen Schläfen, das heftige Kopfschmerzen signalisierte, fühlte sich zunehmend hungrig und erschöpft. Wie Sisyphos zu Füßen des Berges, dessen steile Flanke zu erklimmen ihm wieder einmal unmittelbar bevorsteht, dachte er, hütete sich aber, den Gedanken zu äußern, um seine Kollegin nicht noch zusätzlich zu entmutigen.
Neundorf bremste abrupt, bog in die Taubenheimstraße ein. Eine Minute später hatten sie das Amt erreicht.
»Ich kümmere mich sofort um den Bericht an die Staatsanwaltschaft«, sagte Braig, als sie die Treppen zu ihren Büros hochjoggten, »und danach bereite ich die Pressekonferenz vor.« Ihm fiel ein, dass Neundorf im Rahmen einer Ermittlung, die sie erfolgreich bis zur Ergreifung der Täter durchgeführt hatte, am Nachmittag vor Gericht aussagen musste, wünschte ihr dazu alles Gute.
Braig betrat sein Büro, schaute die Faxablage durch, las den Bericht des Gerichtsmediziners, der als vorläufig deklariert war, über den bisher bekannten Sachverhalt zwar nicht hinausging, ihn jedoch eindeutig bestätigte. Marianne Kindler war von mehreren mit einem harten Gegenstand ausgeführten Schlägen am gesamten Leib getroffen und anschließend von einem oder verschiedenen Autos mehrfach überrollt worden, was schließlich zu ihrem Tod geführt hatte. Genauere Aussagen waren erst nach der Obduktion zu erwarten. Der Todeszeitpunkt lag zwischen acht und neun Uhr abends.
Braig sah die Unterschrift Dr. Keils, kannte den Arzt gut genug, um zu wissen, dass die endgültige Expertise mit größter Wahrscheinlichkeit noch am selben Tag zu erwarten war. Dr. Keil arbeitete gründlich und akkurat, legte zudem größten Wert darauf, die stets auf glühenden Kohlen sitzenden Beamten der Ermittlungsbehörden möglichst bald mit fundierten Untersuchungsergebnissen zu bedienen. Was der Gerichtsmediziner hasste, waren Telefonanrufe ungeduldig drängender Staatsanwälte und Kommissare, die ihn – wohl wissend, dass er noch keinen abschließenden Befund liefern konnte – aus seiner Arbeit rissen und zu voreiligen Aussagen zu verleiten suchten. Also verzichtete Braig aus Rücksicht auf einen Anruf, schlug stattdessen die Terminkalender Marianne Kindlers auf. Sein Magen knurrte. Er schaute auf die Uhr, sah, dass es kurz vor zwölf war, holte sich vom Waschbecken ein Glas Wasser. Als er das Glas abstellte, läutete das Telefon.
»Wo bist du?«, fragte Ann-Katrin.
»Im Büro«, antwortete er, »seit zehn Minuten.«
»Hast du Zeit? Ich bin gerade am Salat.«
»Du hast gekocht?«
»Ich wollte etwas Neues versuchen. Nudelgratin. In zwanzig Minuten ist es soweit.«
»Nudelgratin?«, wiederholte er. Im selben Moment hatte er die Tote vor Augen, die Frau, die mit ihren vielfältigen Aktivitäten versucht hatte, die kleine Nudelfabrik am Leben zu erhalten.
»Du kommst?«, fragte Ann-Katrin.
Er riss sich aus seinen Gedanken, überlegte nicht lange. »Ich beeile mich«, versprach er.
Er setzte sich an den Computer, versuchte sich zu konzentrieren, verfasste einen kurzen Bericht über den Fund von Marianne Kindlers Leiche. Er las den Text durch, korrigierte zwei Sätze, mailte ihn dann an die Staatsanwaltschaft, bat darum, für den späten Nachmittag eine Pressekonferenz anzuberaumen. Als er den Rechner wieder ausschaltete, war es kurz vor halb eins.
Er ließ die Terminkalender auf dem Schreibtisch liegen, schlüpfte in seine Jacke, lief zum Cannstatter Bahnhof. Die Luft war klar und frühlingshaft mild. Er war froh, dem Büro entkommen zu sein, freute sich über die angenehme Temperatur. Die Bewegung tat ihm gut. Er schritt kräftig aus, atmete tief durch. Im Bahnhof nahm er die nächste S-Bahn bis zum Feuersee, hatte die Hermannstrasse nach wenigen Schritten erreicht.
Die Wohnung duftete verlockend nach Kräutern und würzig gebratenem Käse. Er legte seine Jacke ab, begrüßte seine Freundin mit einem Kuss.
»Schön, dass du da bist«, empfing sie ihn.
Braig ging ins
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