Schwaben-Wahn
erschossen. Mitten in der Nacht.«
»Möglich ist es, ja. Aber bisher haben Ihre Kollegen noch keine Spuren einer Kugel entdeckt, oder?«
»Soweit ich weiß, nein. Das hätten sie sofort gemeldet.«
»Was sollte die Sache mit dem Auto im See? Wissen Sie inzwischen mehr?«
»Leider nein. Wir sind noch ganz am Anfang.«
»Dann wünsche ich Ihnen viel Erfolg.«
Braig verabschiedete sich von dem Arzt, sah Neundorfs fragenden Blick. »Gegen Mitternacht erschossen«, sagte er. Wahrscheinlich unmittelbar vor dem Sturz in den See. Wer macht so etwas?«
»Jemand, der seine Macht demonstrieren will. Seine Macht über einen Menschen, den er schrecklich hasst.«
»Dieser Zimmermann?«
Sie zuckte mit der Schulter. »Vielleicht weiß Herzogs Mutter, was ihr Sohn gestern Abend plante. Wenn wir Glück haben, hat er sich mit ihr darüber unterhalten. Ich hoffe nur, dass wir sie mit unserer Botschaft nicht zu sehr schockieren. Vielleicht können wir ihr gleich zu Beginn einige Informationen entlocken.«
Das Haus, vor dem sie standen, ähnelte vom Baustil her dem in Sindelfingen: ein modernes, mit großen Fenstern ausgestattetes Gebäude, drei Stockwerke hoch, für jede Etage ein eigenes Namensschild an der Eingangstür. Sie fanden den Namen
Herzog
in doppelter Ausführung, einmal mit einem
E
, ein Stockwerk höher mit einem
K
versehen. Braig drückte auf die unterste Glocke, hörte die Stimme einer älteren Frau aus dem Lautsprecher. »Ja, bitte?«
»Frau Herzog, wir sind Polizeibeamte. Dürfen wir bitte mit Ihnen sprechen?«
»Polizei? Was wollen Sie?«
»Es geht um Ihren Sohn.«
»Karl?«
»Ja.«
»Was ist mit ihm?«
»Frau Herzog, das würden wir Ihnen gern persönlich erklären. Dürfen wir zu Ihnen kommen?«
Er hörte einen lauten Seufzer, bevor der Lautsprecher verstummte, vernahm das Summen des Türöffners. Braig hielt Neundorf die Türe auf. Sie standen in einem hellen, mit vielen Blumenstöcken geschmückten Treppenhaus. Zur Wohnung im Erdgeschoss führten nur eine Hand voll Stufen nach oben.
Die Frau, die ihnen aufmachte, reichte Braig kaum bis zur Brust, er schätzte sie auf höchstens 1,60 Meter. Sie hatte kurze graue Haare, ein bleiches, von vielen Falten geprägtes Gesicht, schien um die siebzig. Ihre Augen blickten neugierig zu ihm hoch. »Polizei?«, fragte sie.
Braig zog seinen Ausweis, streckte ihn ihr entgegen, stellte sich und seine Kollegin vor. »Karl Herzog lebt bei Ihnen?«, fragte er. »Sie sind seine Mutter?«
»Emilie Herzog«, bestätigte sie, »mein Sohn wohnt oben.« Sie deutete zur nächsten Etage.
»Dürfen wir reinkommen?«
Emilie Herzog studierte ausführlich die Ausweise der Beamten, trat dann von der Tür zurück. »Weshalb wollen Sie mich sprechen?«
Braig und Neundorf folgten ihr in die Wohnung, bewunderten die Orient-Teppiche, die in mehreren Exemplaren und vielerlei Variationen Böden und Wände des Flurs und des Zimmers schmückten, in das die Frau sie führte. Braig spürte den weichen Belag angenehm unter seinen Füßen; er bremste seinen Schritt, versuchte, vorsichtig aufzutreten, um die Teppiche zu schonen.
»Hier, bitte.« Emilie Herzog bot ihnen Platz auf einem voluminösen, mit samtrotem Stoff überzogenen Ecksofa vor einem niedrigen ovalen Glastisch an. Sie warteten, bis sich die Frau in einem breiten Sessel niedergelassen hatte, setzten sich ihr dann gegenüber.
»Schön haben Sie es hier«, eröffnete Neundorf das Gespräch, »sehr gemütlich.«
»Wir betrieben eine Importfirma für Orientteppiche«, erklärte ihre Gastgeberin, »mein Mann war mehrfach in Persien, wie man das Land früher nannte, und sah sich dort um. Er suchte sich die schönsten Muster selbst aus. Leider hatte Karl kein Interesse ...« Sie brach ab, betrachtete die Besucher. »Aber wozu soll ich Ihnen das erzählen? Das interessiert Sie sicher nicht. Darf ich fragen, was die Polizei von uns will?«
Neundorf wartete ein paar Sekunden mit ihrer Antwort. »Friedrich Zimmermann«, erklärte sie dann, »sagt Ihnen der Name etwas?«
Braig schaute zu seiner Kollegin, begriff, was sie bezweckte. Wenn sie ihrer Gastgeberin erst den – noch dazu so schrecklich herbeigeführten – Tod ihres Sohnes mitgeteilt hatten, würde sie als Informationsquelle für die nächste Zeit wahrscheinlich ausfallen. Dabei war sie vielleicht die einzige Person, die sie auf der Suche nach dem Mörder entscheidend weiterbringen konnte. Er sah, wie Emilie Herzog unruhig vom einen zum anderen blickte, dazu voller
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