Schwaben-Wahn
überlegte der Kommissar, »zuerst überfällt er eine Tankstelle und dann ermordet er den Psychologen, der nach seiner Auffassung dafür verantwortlich ist, dass ihm der Führerschein monatelang entzogen wurde. Passt das zusammen?«
»Weshalb nicht?« Neundorf ließ sich nicht ablenken, blickte streng geradeaus. »Ich wüsste kein Argument, das eine Verbindung zwischen den beiden Fällen von vornherein ausschließt.«
Der Überfall auf die Tankstelle hatte kurz vor zwanzig Uhr am Rand des Stuttgarter Vororts Zuffenhausen stattgefunden, war nach den Erkenntnissen der Kollegen von einem einzelnen maskierten Täter verübt worden. Er hatte einer vorläufigen Schätzung nach annähernd 10.000 Euro erbeutet. Die Identifikation Zimmermanns war gelungen, weil er bei der Flucht eine dunkle Wollmütze verloren hatte, die ihm als Gesichtsschutz gedient hatte. Die DNA-Analyse mehrerer an der Mütze gefundener Haare war der Schlüssel zur Entlarvung seiner Person; die Auswertung und der Vergleich der Videoaufnahmen der Tankstellen-Überwachungskameras mit Fotos von Zimmermann hatten dieses Ergebnis bestätigt.
»Dann fehlt uns vor allem der Zeitpunkt des Todes von Herzog, um eine eventuelle Verbindung zwischen den beiden Fällen herstellen zu können.«
»Willst du anrufen?«
Braig nahm sein Handy, gab die Nummer Dr. Keils ein. Es dauerte fast zwanzig Sekunden, bis sich der Arzt schwer atmend meldete.
»Tut mir Leid«, brummte der Mann, »ich hätte schon längst Bescheid gegeben. Aber heute ist wieder der Teufel los. Im wahrsten Sinn des Wortes. Ich war noch nicht fertig am Bärensee, als der nächste Notruf kam. Wieder ein schwerverletztes Kind. Beim Überqueren der Straße von einem Achtzehnjährigen angefahren. Mitten in Kaltental. Hoffentlich kommt die Kleine durch. Sie ist gerade auf dem Weg ins Krankenhaus.«
Braig hörte, wie schwer der Arzt atmete, bot ihm an, seinen Anruf später zu wiederholen.
»Nein, warten Sie«, keuchte Dr. Keil, »ich suche nur meine Sachen zusammen, dann können wir miteinander reden.«
Braig sah, dass sie in Fellbach angelangt waren und ins gesuchte Stadtviertel einbogen. Die Esslingerstraße war der Karte nach mehr als zwei Kilometer lang, zog sich über den gesamten Westteil der Stadt hin. Sie passierten Hochhäuser, kamen an der
Schwabenlandhalle
vorbei, tangierten die Abzweigung der Stadtbahn. Die gesuchte Hausnummer lag am anderen Ende der Straße.
»Also«, meldete sich der Arzt, »dieser Tote vom Bärensee, Karl Herzog, wie Sie festgestellt haben. An meiner Einschätzung der Todesursache hat sich nichts verändert. Daran gibt es keine Zweifel: Einschuss unter der rechten Schläfe mit einer kleinkalibrigen Waffe. Entfernung der Waffe meiner Erfahrung nach nicht allzu weit vom Opfer.«
»Nicht allzu weit?«, wiederholte Braig.
Dr. Keil seufzte. »Langsam, junger Mann, langsam. Für diese vorläufige Einschätzung kann ich Ihnen keine Beweise präsentieren. Der Kopf des Toten lag wahrscheinlich mehrere Stunden im Wasser, daher ist jede Aussage sehr schwierig. Aufgrund der Tatsache jedoch, dass ich in den letzten Jahren schon sehr viele Schussopfer von Angesicht zu Angesicht betrachten durfte, wage ich die Äußerung, dass der Mörder nicht allzu weit von Herzog entfernt war. Vielleicht dreißig Zentimeter, vielleicht etwas weniger, auf keinen Fall jedoch mehrere Meter von ihm weg. Wie gesagt, meine vorläufige Einschätzung. Warten Sie die Obduktion ab. Was den Todeszeitpunkt betrifft ...« Dr. Keil brach ab, verfiel in ein kräftiges Husten.
Braig sah, dass sie das gesuchte Haus erreicht hatten, machte sich zum Aussteigen fertig.
»Wie gesagt, der Mann lag mehrere Stunden im Wasser. Ich sehe das an der Farbe seiner Haut, an der unterschiedlichen Konsistenz seiner Gliedmaßen, am Stoff seiner Kleidung. Genaueres wird erst die Obduktion ergeben. Ich denke, nach allem, was mir meine Erfahrung sagt, war Herzog zum Zeitpunkt meiner Untersuchung schon mehrere Stunden tot, so gegen Mitternacht wird es passiert sein und fast genauso lang lag er auch schon im Wasser.«
»Gegen Mitternacht?«
»Meines Erachtens, ja. Ich untersuchte die Leiche gegen neun Uhr. Acht, neun Stunden im Jenseits gebe ich ihm da schon.«
Acht, neun Stunden, überlegte Braig. Mitternacht oder kurz danach. »Und Sie glauben, sein Tod und der Sturz ins Wasser folgten schnell aufeinander?«
»Meiner Einschätzung nach, ja. Aber bitte, warten Sie die Obduktion ab.«
»Dann wurde er eventuell am Bärensee
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