Schwanenlied: Der fünfte Fall für Katrin Sandmann (Krimi im Gmeiner-Verlag) (German Edition)
polierten Metall sah die Mumie noch winziger aus als in dem Bett. Niemals im Leben war das eine erwachsene Frau! Katrin schluckte. Jetzt kam der schwierigste Teil. Behutsam fasste sie in den leicht geöffneten Mund der Mumie. Je weiter hinten, desto besser, dachte sie. Dann merkt vermutlich niemand etwas. Sie zuckte zusammen, als der Kiefer unter ihrer Berührung weiter nach unten rutschte. Mist! Sie musste vorsichtiger sein.
»Tut mir leid«, sagte sie zu der Mumie. »Ich werde so behutsam sein, wie es geht.«
Sie steckte die Taschenlampe in den Mund, zog aus der anderen Hosentasche eine kleine Zange und umfasste damit einen Backenzahn. Nur ein kurzer Ruck, dann hatte sie den Zahn aus dem Kiefer gelöst. Vorsichtig ließ Katrin den Zahn in eine kleine Plastiktüte gleiten. Gleich morgen früh würde sie ihn in die Düsseldorfer Rechtsmedizin schicken. Sie hatte bereits mit Maren Lahnstein, der Institutsleiterin telefoniert, die ihr nach einigem Hin und Her zugesagt hatte, die Sache bevorzugt zu behandeln. »Ein paar Tage wird es trotzdem dauern«, hatte sie gesagt. »Und ganz billig ist eine solche Untersuchung auch nicht.«
Katrin schob die Tüte in ihre Hosentasche. Ein paar Tage, und dann würde sie Gewissheit haben.
5
Samstag, 12. Mai
Die Nachricht hatte es sogar bis in den Kölner Stadtanzeiger geschafft. Die Meldung war zwar kurz, doch auffällig platziert. Mumie in geheimer Kammer auf Eifler Hof . Warum hatte sie gleich gewusst, um welchen Hof es sich handelte? Warum war sie überhaupt über die winzige Meldung gestolpert? Es bestand jedenfalls kein Zweifel, welches Anwesen mit dem Hof in der Nähe von Blankenheim, dessen Eigentümer kürzlich verstorben war, gemeint war.
Sie legte die Zeitung weg und starrte aus dem Fenster. Tom war im Bad, was für ein Glück. Sie hasste dieses betretene Schweigen zwischen ihnen, wenn sie beide an das Gleiche dachten, aber so taten, als wäre nichts.
Ärgerlich schob sie den Teller mit dem Brötchen von sich weg. Der Appetit war ihr vergangen. Natürlich kannte sie die Geschichte, die man sich über Johanna Grauweiler erzählte, doch sie hatte sie für ein albernes Märchen gehalten, mit dem die Erwachsenen die Kinder erschrecken wollten: eine Frau, die Angst hatte, lebendig begraben zu werden, die nicht beerdigt wurde und deshalb als Dämon umherirrte, in der Zwischenwelt gefangen war. An den Dämon glaubte sie noch immer nicht, doch die Gerüchte über Johanna Grauweiler hatten offenbar gestimmt.
Sie verschränkte die Arme, doch die Erinnerungen ließen sich nicht abwehren. Sie hatten nebeneinander auf einem Baumstamm gesessen, über den Feldern hatte die Hitze geflirrt, doch im Wald war es angenehm kühl gewesen. Die Luft erfüllt vom Duft nach Harz und trockenem Laub. Sie hatten wilde Blaubeeren gefunden und sie sich gegenseitig in den Mund gesteckt. Nachher hatten sie über ihre blauen Zungen gelacht. Auf dem Baumstamm hatte sie ihm von dem Dämon erzählt. Er hatte sie mit seinen unglaublich blauen Augen angesehen und ihr gebannt zugehört, obwohl er die Geschichte natürlich kannte. »Und du?«, hatte er schließlich gefragt. »Hast du auch Angst, lebendig begraben zu werden?«
Die Frage hatte sie verwirrt. Sie hatte sich bis dahin noch nie Gedanken über den Tod gemacht, nicht über ihren Tod zumindest. Wieso auch? Sie war siebzehn, und die Jahre, die vor ihr lagen, erstreckten sich wie ein unendliches Band in die Zukunft. Der Tod war für andere da, nicht für sie. »Nein, habe ich nicht«, hatte sie schließlich zögernd geantwortet.
»Ich auch nicht.« Er hatte sich vorgebeugt und sanft mit dem Finger über ihr Gesicht gestrichen.
Jetzt, hatte sie gedacht, jetzt passiert es. Seit Wochen hatte sie diesem Augenblick entgegengefiebert. Bisher war nicht mehr zwischen ihnen geschehen als schüchternes Händchenhalten und ein paar hastige Küsse. Dabei musste er mehr wollen. Schließlich war er älter als sie. Und verheiratet. Händchenhalten war etwas für Schuljungen, aber nichts für erwachsene Männer. Mit Tom hielt sie Händchen, das war nett, aber Kinderkram. Mit ihm war es ganz anders. Er war ein Mann. Sie war sich sicher, dass er mehr von ihr wollte. Und sie war bereit, es ihm zu geben. Sie wollte ihm beweisen, wie sehr sie ihn liebte. Sie wollte sich ihm hingeben, ihn in sich empfangen. Dann gehörte er ganz ihr, er würde seine Frau verlassen und sie heiraten.
Seine Finger waren tiefer geglitten, über ihren Hals und in den Ausschnitt ihrer
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