Schwanenlied: Der fünfte Fall für Katrin Sandmann (Krimi im Gmeiner-Verlag) (German Edition)
sie schon in den dreißiger Jahren weggegangen, hat als Kindermädchen bei einer Familie in Frankfurt gelebt. Marius war seit dem Tod seines Vaters allein hier, da bin ich ziemlich sicher.«
Katrin verschränkte triumphierend die Arme. »Das kann nicht sein.«
»Woher willst du das wissen?«
»Ich habe keine Ahnung, wie das mit dem Mädchen mit der Geige oder der kleinen Helga ist. Aber dieses Buch hier kenne ich.« Katrin zog einen Band aus dem Stapel hervor und hielt ihn Manfred hin.
» Pippi Langstrumpf . Kennt wohl jeder. Warum sollte Angelika das nicht als Mädchen gelesen haben, bevor sie fortgegangen ist? Meinst du, das Buch war zu anarchisch für eine Eifler Bauernfamilie in den dreißiger Jahren?«
»Darüber möchte ich mir kein Urteil erlauben. Gelesen hat Angelika es aber mit Sicherheit nicht.« Katrin strich über den verstaubten Buchrücken.
Manfred runzelte die Stirn. »Warum nicht?«
»Weil Pippi Langstrumpf erst 1949 auf Deutsch erschienen ist.«
*
Es war, als hätte jemand die Zeit zurückgedreht, zurück zu jenem sengend heißen Augustnachmittag, an dem ihr Glück zerbrochen war. Anna Henk schaute der Frau hinterher, die wieder zu ihrem Wagen ging, ihren üppigen Leib hinter das Lenkrad zwängte und die Tür zuschlug. Ihr Anblick hatte Anna so sehr aus der Fassung gebracht, dass sie gar nicht richtig mitbekommen hatte, was die Fremde eigentlich von ihr wollte.
Anna hatte im Vorgarten etwas Unkraut gezupft, eine beschwerliche Arbeit, die sie jedes Mal mit Rückenschmerzen bezahlte. Doch einfach die Hände in den Schoß zu legen, das brachte sie nicht fertig. Sie hatte ihr Leben lang hart gearbeitet, erst auf dem Hof ihrer Eltern, dann auf dem Hof, den sie gemeinsam mit ihrem Mann Karl betrieb. Als Karl gestorben war, hatte sie alles verkauft, aber sie war im Dorf geblieben und hatte in einem Lebensmittelladen in Blankenheim gearbeitet. Über dreißig Jahre lang war sie sechs Tage in der Woche um halb sieben aufgestanden und hatte Obstkisten geschleppt, Konserven eingeräumt und Regale abgestaubt, und nach Feierabend hatte sie ihr eigenes kleines Haus samt Garten in Ordnung gehalten. Viel Zeit, die Beine hochzulegen und auszuruhen, hatte sie nie gehabt. Aber das hatte sie auch nie gewollt. Selbst jetzt, wo sie im Ruhestand war und sich den Tag frei einteilen konnte, stand sie genauso früh auf wie all die Jahre und arbeitete unermüdlich. Sie musste etwas tun, ihre Hände in Bewegung halten, sonst wurde sie unruhig.
Gerade als Anna überlegt hatte, eine kurze Pause einzulegen und sich eine Tasse Kaffee zu kochen, hatte jemand »Guten Tag« über den Gartenzaun gerufen. Anna war überrascht herumgefahren, denn sie hatte keine Schritte näherkommen hören. Fremde verirrten sich selten nach Kestenbach, außer gelegentlichen Wanderern sah Anna im Dorf nur die vertrauten Gesichter, von denen sie die meisten seit Jahrzehnten kannte. Sie hatte die schwarze Frau erblickt, und ihr Herzschlag hatte vor Schreck ausgesetzt. Im ersten Moment hatte sie gedacht, sie hätte eine Wahnvorstellung. Erst als die Frau weitersprach, begriff Anna, dass sie kein Produkt ihrer Fantasie war, sondern real. Doch die Fragen der Fremden waren an ihr vorbeigerauscht, ohne in ihrem Kopf einen Sinn zu ergeben. Anna war viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, gegen die Erinnerungen anzukämpfen, gegen das Bild in ihrem Kopf, das Bild von einer anderen Person, die viele Jahrzehnte zuvor genau so vor ihrem Haus gestanden und Fragen gestellt hatte. Natürlich war es damals nicht das gleiche Haus gewesen, nicht der gleiche Vorgarten, nicht der gleiche Zaun. Und ihr Besucher war ein Mann gewesen, keine Frau. Doch er hatte ein ähnlich schwerfälliges Deutsch gesprochen und fast die gleichen Fragen gestellt. Konnte das sein? Nein, das war unmöglich. Schließlich lagen fast vierzig Jahre zwischen beiden Ereignissen. Sicherlich warf sie da etwas durcheinander. Anna fasste sich an die Stirn. Sie wusste nicht mehr, was tatsächlich gerade geschah und was sich nur in ihrem Kopf abspielte. Gegenwart, Vergangenheit, Erinnerungen und Fantasie bildeten ein wirres Knäuel in ihrem Kopf, in das sie sich hoffnungslos verheddert hatte.
Die Fremde hatte offenbar auch rasch bemerkt, dass Anna ihr gar nicht richtig zuhörte. Schnell hatte sie sich verabschiedet und war zu ihrem Wagen zurückgegangen. Sie musste Anna für verrückt halten. Erneut berührte Anna ihre Stirn. War sie wirklich verrückt? Hatte sie den Verstand verloren?
Ein
Weitere Kostenlose Bücher