Schwanenlied: Der fünfte Fall für Katrin Sandmann (Krimi im Gmeiner-Verlag) (German Edition)
Kriminalberichterstattung, auf Banküberfälle, Tötungsdelikte oder rätselhafte Einbruchserien. Diese Woche hatte er sich Urlaub genommen, um, wie er es ausdrückte, dem Irrenhaus für ein paar Tage zu entkommen. Ein Gespräch mit seiner Mutter war bestimmt das Letzte, worauf er Lust hatte. Wenn sie miteinander telefonierten, endete es fast immer im Streit. »Er ist gerade beschäftigt. Du kannst es mir erzählen, ich gebe es dann an ihn weiter.«
»Das geht nicht.« Ruth Kabritzky hörte sich an, als würde sie jeden Augenblick in Tränen ausbrechen. »Ich muss mit ihm selbst sprechen. Es ist dringend.«
»Ist etwas passiert?« Katrin war plötzlich alarmiert. Als Ruth nicht sofort antwortete, lenkte sie ein. »Okay, ich sag ihm Bescheid. Einen Moment, bitte.«
Mit dem Telefon in der Hand ging sie zurück ins Wohnzimmer, setzte sich auf die Sofakante und berührte Manfred am Arm.
Er schlug die Augen auf und lächelte sie an. Als er das Telefon sah, schüttelte er den Kopf. »Ich bin nicht da«, formten seine Lippen.
Katrin hielt ihm das Telefon hin. »Deine Mutter. Es scheint wichtig zu sein.«
Er verdrehte die Augen.
Katrin zuckte hilflos mit den Achseln. Gerade wollte sie Ruth auf später vertrösten, als Manfred sich aufsetzte. Er nahm die Kopfhörer ab. Ein sanfter Jazzsound plätscherte heraus, zu leise, um die Melodie erkennen zu lassen.
Katrin blieb neben Manfred sitzen, während er telefonierte. Er sagte nicht viel, brummte nur hin und wieder eine Antwort. Dafür war der Redestrom seiner Mutter unüberhörbar. Katrin verstand zwar die Worte nicht, aber sie hörte den schrillen Tonfall, der sich hin und wieder wie eine Schwalbe in die Höhe schraubte.
Plötzlich verzog Manfred das Gesicht. »Wieso ich? Das ist doch Quatsch.«
Wieder ein Wortschwall.
»Aber da muss es doch noch andere …« Er kam nicht dazu, den Satz zu beenden. Schließlich blaffte er ein »Ich überlege es mir« in die Muschel, beendete das Gespräch und warf das Telefon in die Sofaecke.
Katrin schwieg abwartend. Sie wollte Manfred nicht bedrängen. Das Thema Familie war ein Minenfeld, und ein Gespräch mit seiner Mutter riss immer alte Wunden auf. Manfred nahm es ihr übel, dass sie ihn nicht vor dem Vater geschützt hatte, der wie eine dunkle Wolke die Erinnerungen an seine Kindheit trübte. Oswald Kabritzky hatte mit solch kalter Strenge über seine Familie geherrscht, dass Manfred kurz vor dem Abitur aus dem Haus geflohen war und geschworen hatte, es nie wieder zu betreten. Bisher hatte er seinen Schwur gehalten, obwohl sein Vater vor mehr als zehn Jahren gestorben war.
Manfred starrte schweigend auf den Teppich. Mit einem Mal blickte er auf und fuhr sich durch das unordentliche blonde Haar. »So ein Scheiß!«, stieß er zwischen den Zähnen hervor. »So hatte ich mir meinen Urlaub nicht vorgestellt.«
»Was ist denn los?«, fragte Katrin vorsichtig.
»Ich muss in die Eifel. Und ich habe nicht die geringste Lust dazu.«
»Warum musst du denn in die Eifel?«
»Onkel Marius ist gestorben.«
Katrin sah ihn überrascht an. » Onkel Marius ? Ich dachte, du hättest außer deiner Mutter keine Verwandten mehr?«
»Er ist nur ganz entfernt verwandt. Sein Vater und meine Urgroßmutter waren Geschwister. So was in der Art. Genau kapiert habe ich es nie.«
»Und du wirst zur Beerdigung erwartet.«
»Als Sargträger.« Er äffte die Stimme seiner Mutter nach. »Das gehört sich so, die Männer der Familie und der Nachbarschaft tragen den Sarg.«
»Du wirst es überleben.«
»Ja, vermutlich. Aber das ist noch nicht alles.«
»Was noch?«
»Ich habe sein Haus geerbt.«
*
Anna Henk arbeitete sich mit langsamen Schritten den Hang hinauf. Ein scharfer Wind blies ihr ins Gesicht und machte ihr den Aufstieg noch schwerer. Trotz des milden Maiwetters war der Wind kalt und schnitt ihr in die Haut.
Keuchend hielt Anna inne. Nur kurz verschnaufen, dann würde es wieder gehen. Unzählige Male schon war sie diese Straße gegangen, als kleines Mädchen, eine Kanne Milch in jeder Hand, eine für die alte Frau Hörnchen und ihren schwachsinnigen Sohn, eine für den Grauweilerhof. Bei jedem Wetter hatte ihre Mutter sie losgeschickt, in aller Frühe, noch vor der Schule. Im Winter war es um diese Zeit stockfinster gewesen, und im Unterholz am Wegesrand hatten geheimnisvolle Schatten gelauert.
Am unheimlichsten aber war der Grauweilerhof selbst gewesen. Anna kannte alle Geschichten über das Haus und was darin geschehen war. Ihr
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