Schwanenlied: Der fünfte Fall für Katrin Sandmann (Krimi im Gmeiner-Verlag) (German Edition)
Katrin sah ihn ungläubig an. War er denn gar nicht neugierig auf sein Erbe? Natürlich hatte er das Haus als Kind schon gesehen, aber das war Jahrzehnte her. Sie verstand nicht, warum er sich so zierte. Gestern hatten sie in Champagnerlaune Zukunftspläne gemacht, sich überlegt, von dem Erlös aus dem Verkauf des Hauses ein Jahr lang durch die Welt zu reisen, oder gar das Anwesen zu behalten und ein Hotel aufzumachen, doch davon war heute nichts mehr zu spüren. »Willst du dir nicht das Haus ansehen?«
»Ach so.« Manfred nahm die leere Reisetasche vom Bett und warf sie unten in den Schrank. »Das liegt nicht in Winscheid, sondern in Kestenbach.«
»Ach wirklich? Dann habe ich wohl etwas falsch verstanden.«
Manfred winkte ab. »Vermutlich habe ich es nicht richtig erklärt. Eigentlich habe ich gar nichts erklärt.« Er knallte die Schranktür zu. »Tut mir leid. Ich hatte einfach keine Lust, darüber zu reden. Das alles kotzt mich an.« Er trat gegen den Bettpfosten wie ein trotziges Kind. »Lass mich einfach in Ruhe damit.«
Katrin verschränkte die Arme. Wut stieg in ihr auf. »Ich weiß, dass es dir im Augenblick beschissen geht. Und ich kann dich verstehen. Aber ich bin weder deine Mutter noch dein Vater noch dieser Onkel, der dir ungebeten ein Haus vererbt hat. Also lass deinen Frust nicht an mir aus.«
Manfred wandte den Blick ab. »Du weißt nicht, wie sich das anfühlt.«
Eine Welle von Mitgefühl überrollte Katrin und erstickte ihre Wut. Sie trat näher und schlang die Arme um ihn. »Du bist jetzt erwachsen. Niemand kann dir mehr etwas tun. Und falls doch, hast du immer noch mich. Du weißt, ich werde mit jedem Gegner fertig, auch wenn ich nicht so aussehe.«
Manfred drückte sie an sich, dann hielt er sie von sich weg und grinste sie an. »Ich weiß.« Er küsste sie auf das Haar. »Danke.«
Katrin seufzte. Sie hätten an ihren ursprünglichen Plänen festhalten sollen. Zum Ende der Woche sollte die Wolkendecke aufreißen, und das Wochenende versprach, sommerlich warm zu werden. Sie hatten vorgehabt, ans Meer zu fahren, für ein paar Tage richtig auszuspannen, sich die Seeluft um die Nase wehen zu lassen. Stattdessen hatte sie Manfred überredet, in seine persönliche Hölle zurückzukehren. »Schon okay. Was hältst du davon, wenn wir uns ein nettes Restaurant zum Mittagessen suchen? Und beim Essen erzählst du mir ein bisschen etwas von Onkel Marius, deiner Familie und dem Hof?«
Manfred nickte langsam. »Ich schätze, das ist eine gute Idee.« Er blickte auf ihren Koffer. »Falls du rechtzeitig mit dem Auspacken fertig wirst.«
*
Rosemary Alcott hob den Koffer vom Band und hievte ihn auf den Karren. Sie schwitzte. Ihr Körper fühlte sich feucht und klebrig an, die Beine dick und schwer. Kein Wunder nach dem langen Flug. Außerdem war die Gepäckhalle stickig. Zumindest kam es ihr so vor. Vielleicht war es auch die Aufregung, die Rosemary die Kehle zuschnürte und ihr den Schweiß aus den Poren trieb. Schließlich war das hier keine gewöhnliche Reise, sondern eine Mission mit ungewissem Ausgang. Eine Mission, deren Ergebnis schmerzlich sein würde, egal, wie sie ausging. Rosemary fächelte sich mit der Zeitschrift, die sie aus dem Flugzeug mitgebracht hatte, Luft zu. Wie gut, dass sie ein leichtes Kleid angezogen hatte, sonst wäre sie womöglich in Ohnmacht gefallen. Wie konnte es nur so heiß sein? In ihrer Vorstellung war Deutschland immer kalt gewesen, besaß schneebedeckte Bergspitzen, unter denen sich malerische Dörfer an den Hang kuschelten.
Rosemary seufzte und steckte die Zeitschrift wieder in die Tasche. Langsam schob sie den Wagen auf den Ausgang zu. Gesprächsfetzen und Begrüßungsrufe drangen an ihr Ohr, als sie durch die automatische Tür in die Ankunftshalle des Frankfurter Flughafens trat, ein wirres Gemisch aus vertrautem Englisch und Deutsch, der Sprache, die sie zwar fließend beherrschte, aber noch nie gesprochen hatte.
Sie trat an die frische Luft, die angenehm kühl war, und reihte sich in die Schlange am Taxistand ein. Mit einem Taschentuch wischte sie sich über die feuchte Stirn. Hoffentlich war das Taxi klimatisiert! Und hoffentlich dauerte die Fahrt in die Innenstadt nicht zu lang. Sie sehnte sich nach einem kühlen Drink und danach, irgendwo ihre Beine ausstrecken zu können. Ursprünglich hatte sie direkt nach ihrer Ankunft mit dem Zug weiterfahren wollen, doch als sich herausgestellt hatte, dass sie viermal hätte umsteigen müssen, hatte sie
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