Schwanentanz
umher. Gänseblümchen, Löwenzahn und Klee erkannte sie, bei allem anderen wurde es schwieriger. Hm, Blätter, die wie breite Grashalme aussahen. Sie riss eins ab und schnupperte daran. Ob das Breit- oder Spitzwegerich war? Schon möglich, leider erinnerte sie sich nicht, ob man dem Tee aus diesem Kraut irgendwelche Heilwirkungen nachsagte. Nachher manipulierte sie ungewollt an ihrer Verdauung oder handelte sich psychedelische Träume ein. Besser nicht, dachte sie und ließ das Grünzeug fallen, bückte sich stattdessen nach einem vierblättrigen Kleeblatt.
„Ein Glücksbringer, wer sagt’s denn.“ Sie schlenderte weiter, fand ein zweites und ein drittes der seltenen Blätter. Das musste sie ihrer Mum erzählen, die liebte solchen Kitsch. Sie nahm einige Kleeblätter mit, um sie für ihre Mutter zwischen Buchseiten zu pressen. Dann fiel ihr Blick auf eine Blume, wie sie sie noch nie gesehen hatte.
Ein hellblauer Kelch, der an ein Weinglas erinnerte, reckte sich mit der Öffnung der Sonne entgegen. Darin glitzerte etwas wie eine goldene Perle. Sie hockte sich trotz des Protestes ihres Knies hin und neigte den winzigen Kelch zu sich. Die Perle bewegte sich, es sah aus, als würde sie im Inneren der Blüte auf der Stelle rollen. Suzanna griff nach dem Stängel der Blume. Das Ding würde in einer Vase sicher hübsch …
„Bist du des Wahnsinns?“
Eine Gestalt schoss auf sie zu. Suzanna erschrak so sehr, dass sie aufs Hinterteil plumpste. Das Herz donnerte ihr gegen die Kehle. Durch ein Feld aus hüfthohen Brennnesseln kam ein Mann gestapft, die Hände drohend zu Fäusten geballt, den Mund wütend verzerrt. Der Rest von seinem Gesicht verschwand hinter einem Vorhang aus verfilztem Haar. Wie Dreadlocks. Oh Gott, ein Penner. Vielleicht ein Junkie. Wo kam der so plötzlich her und was wollte er von ihr und wieso war sie nicht zu Hause geblieben und warum hatte sie das verfluchte Handy nie griffbereit, wenn sie es einmal brauchte, verdammt!
„Fass die nie wieder an!“, brüllte er und blieb keinen Meter vor ihr stehen.
Wovon redete der Irre? Ihr Kopf war auf Höhe seines Unterleibs. Sie hätte gern übersehen, dass eine Erektion seine Hose ausbeulte, aber daran konnte sie unmöglich vorbeischauen. Der wollte ihr etwas antun! Sie rutschte auf dem Po ein Stück zurück, warf sich herum und kam in einer Drehung auf die Füße. Schmerz schoss durch ihr Bein.
„Ver-verlassen Sie sofort das Grundstück!“, verlangte sie. Ihre Stimme vibrierte. „Sie haben kein Recht, hier herumzulungern. Gehen Sie sofort oder ich rufe die Polizei!“
„Hast du eine Ahnung, was du da fast zerstört hättest?“
Er machte eine ruckartige Kopfbewegung und für einen Moment konnte sie seine Augen sehen. Sein Blick war nicht zornig – er war fuchsteufelswild. Der Mann trat einen weiteren Schritt vor, ging in die Hocke und warf einen kurzen Blick auf die seltsame Blume, ehe er sie erneut von unten anstarrte, als wollte er ihr allein mit Blicken die Haut vom Leib ziehen. Er packte sich an die Brust, krallte die Finger in das ärmellose Hemd.
„Alles müsst ihr kaputt machen, abbrechen, in Stücke reißen. Zerstören könnt ihr. Sonst nichts!“
„Die Blume?“, stieß sie ungläubig hervor. „Sie brüllen mich wegen einer Blume an?“ Na toll, kein Junkie. Schlimmer. Ein Öko! „Sie brüllen mich - in meinem eigenen Garten - wegen einer bescheuerten Blume an? Verschwinden Sie! Sofort!“
„Darauf kannst du Gift nehmen!“, zischte er durch die Zähne.
Sie bemerkte etwas Seltsames an seiner Oberlippe. Die linke Hälfte schien steif. Es sah aus, als würde sie vom Rest seiner Oberlippe mitbewegt werden, wie ein steifer Finger von der Hand. Das Gewebe war vernarbt, was seinem Mund einen grausamen Zug verlieh. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und wartete, dass er ging. Stattdessen rammte er die Finger einer Hand tief in die Erde. Mit bloßen Händen und verbissenem Gesicht grub er die sonderbare Blume aus. Der Mann musste wahnsinnig sein. Ein geisteskranker Öko-Aktivist. Ob das Blümchen unter Naturschutz stand? Womöglich, aber das war doch kein Grund, das Grünzeug mit den Fingern auszubuddeln. Ihr tat schon vom Zusehen das Fleisch unter den Nägeln weh.
„Ich verlass mich darauf, dass Sie in fünf Minuten verschwunden sind“, sagte sie mit der autoritärsten Stimme, zu der sie fähig war. Dann wandte sie sich ab und ging zum Haus. Sie konzentrierte sich, ihre Furcht nicht durch zu schnelle Schritte zu verraten,
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