Schwarz auf Rot
herzzerreißende Geschichte, und sie war ja all die Jahre danach ledig geblieben. Einige Nachbarn bekund e ten ihr Mitgefühl, doch sie reagierte nicht gerade freun d lich darauf. Sie schien entschlossen, sich in ihrem tingz i jian einzuigeln und ihre Wunden im geheimen zu le c ken.«
»Das ist doch eigentlich verständlich. Ihr Kummer war privater Natur, und vermutlich war es schmerzlich für sie, mit anderen darüber zu reden.«
»Aber in einem shikumen -Haus ist täglicher, ja stün d licher Kontakt mit den Mitbewohnern unvermeidlich«, gab Alter Liang zu bedenken und nippte an seinem Tee. »Manche behaupten, die Shanghaier seien geborene G e schäft s leute und Mauschier. Das ist zwar nicht wahr, aber die Leute haben hier immer schon in solchen Kleingru p pen gelebt und dabei gelernt, Beziehungen zu knüpfen und zu pflegen. Wie schon das Sprichwort sagt: Unmi t telbare Nachbarn sind wichtiger ah entfernte Verwandte. Aber Yin scheint sich ganz bewußt von ihren Nachbarn abg e grenzt zu haben. Das führte dazu, daß man sie nicht mochte und wie eine Außenseiterin behandelte. Lanlan, eine ihrer Nachbarinnen, hat es folgendermaßen zusa m mengefaßt: ›Das hier war nicht ihre Welt. ‹ «
»Vielleicht war sie zu sehr mit dem Schreiben b e schäftigt, um Kontakte zu knüpfen?« sagte Yu und warf heimlich einen Blick auf seine Uhr. Alter Liang glich in mancher Hinsicht seinem Vater, dem Alten Jäger: Beide redeten ohne Punkt und Komma und neigten zu A b schweifu n gen. »Hatten Sie direkten Kontakt mit ihr?«
»Ja, als sie sich hier angemeldet hat. Da wirkte sie ziemlich unfreundlich, geradezu abweisend, so als wäre ich einer von denen, die seinerzeit Yang verprügelt h a ben.«
»Sie haben ihr Buch gelesen?«
»Nicht das ganze, bewahre, bloß die Passagen, die in Zeitungen und Illustrierten abgedruckt waren. Wissen Sie was?« Alter Liang fuhr fort, ohne eine Antwort abzuwa r ten: »Einige waren echt sauer über das, was sie über ihre revolutionäre Begeisterung als Rotgardistin und manche ihrer ›im Übereifer der Revolution begangenen Irrtümer‹ geschrieben hat.«
»Haben ihre Nachbarn auch so reagiert?«
»Nein, nein. Ich glaube, daß kaum jemand hier ihr Buch gelesen hat. Sie haben allenfalls davon gehört. Was ich darüber weiß, habe ich im Rahmen meiner Nachfo r schungen erfahren.«
»Sie haben hervorragende Arbeit geleistet, Alter L i ang«, sagte Yu. »Und jetzt schauen wir uns am besten mal ihr Zimmer an.«
4
Hauptwachtmeister Yu stand vor der schwarzlackie r ten, soliden Eichentür des Vordereingangs und b e rührte den glänzenden Messingklopfer, der dieses shik u men -Haus offenbar schon seit seiner Errichtung zierte.
»Das Gebäude hat zwei Eingänge«, erklärte Alter L i ang. »Die Vordertür kann man von innen verriegeln. Normalerweise wird nach neun Uhr abends abgeschlo s sen. Und dann gibt es noch den Hintereingang, der auf eine kleine Seitengasse führt.«
Für Hauptwachtmeister Yu, der nicht erwähnt hatte, daß er selbst seit vielen Jahren in einem ähnlichen G e bäude wohnte, war diese Erklärung unnötig, doch er hö r te geduldig zu. Sie überquerten den Hof und gelangten in die Gemeinschaftsküche. In diesem Raum drängten sich die Kohleherde von zwölf und mehr Familien, samt G e schirr, Reihen von Briketts und abgeteilten Wandschrä n ken. Yu zählte fünfzehn Herde. Am hinteren Ende der Küche befand sich eine Treppe, die sich insofern von der in seinem Haus unterschied, als man auf dem Absatz e i nen weiteren Raum abgeteilt hatte. Dieses zwischen Pa r terre und erstem Stock gelegene tingzijian galt allgemein als eines der schlechtesten Zimmer in einem shikumen -Haus.
»Gehen wir hinauf in Yins Zimmer. Aber seien Sie vorsichtig, Hauptwachtmeister, die Stufen sind sehr schmal. Ist das nicht ein Zufall«, fuhr Alter Liang fort, »daß in den dreißiger Jahren so mancher Schriftsteller in einem solchen Kämmerchen hauste? Ich erinnere mich, daß man sogar von › Treppenkammerliteratur ‹ sprach, wenn die Autoren sehr arm waren. In unserem Viertel hat vor 1949 ein berühmter tingzijian -Autor gelebt, aber mir fällt sein Name nicht ein.«
Yu konnte ihm auch nicht weiterhelfen, meinte aber, den Begriff schon einmal gehört zu haben. Er fragte sich, wie diese Schriftsteller sich bei all dem Getrappel auf der Tre p pe konzentrieren konnten.
»Sie haben eine Menge gelesen«, sagte Yu, mittle r weile überzeugt, daß der Nachbarschaftspolizist nicht nur ein unermüdlicher
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