Schwarz auf Rot
Anzahl der in einem Gebäude wohnenden Mieter, bot Tagesbetreuung für Kinder an, teilte die Geburtenquoten zu, schlichtete Streitigkeiten unter Nachbarn und kontrollierte die Anwohner perm a nent. Das Komitee war berechtigt, über jeden Anwohner Bericht zu erstatten, und solche Berichte fanden Eingang in die vertrauliche Personalakte, die bei der Polizei über jeden einzelnen geführt wurde und dem Staat jederzeit eine effektive Kontrolle seiner Bürger erlaubte.
Doch wie bei so vielen anderen Institutionen hatte sich in den vergangenen Jahren auch die Rolle des Nachba r schaftskomitees gewandelt, obgleich die Sicherheit im Wohnviertel nach wie vor zu seinen Hauptaufgaben g e hörte. Man hatte bestimmt ein scharfes Auge auf jema n den wie Yin gehabt. Außerdem könnte Yu vermutlich Informationen über etwaige verdächtige Anwohner b e kommen.
Als Hauptwachtmeister Yu das Büro betrat, bemerkte er zu seinem Erstaunen, daß Alter Liang ein Arbeitsessen organisiert hatte. Sechs Essensbehälter aus Plastik waren in der Tischmitte aufgereiht; sie enthielten die Spezialität einer nahe gelegenen Hühnerbraterei. Außer Yu und dem Alten Liang waren vier Mitglieder des Nachbarschaft s komitees anwesend und saßen bereits mit gezückten E ß stäbchen da.
»Das Drei-Gelb-Huhn ist nicht schlecht – gelbe F e dern, gelber Schnabel, gelbe Füße. Natürlich aus Pudong, gara n tierte Freilandhaltung, das ist ein himmelweiter Unte r schied zu diesen Hühnchen aus Massenbetrieben«, erläu te r te Alter Liang und nahm ebenfalls die Stäbchen zur Hand.
Genosse Zhong Hanmin, verantwortlich für die S i cherheit im Viertel, äußerte als erster eine Vermutung im Zusammenhang mit dem Mord. Seines Erachtens deut e ten die herausgezogenen und durchwühlten Schubladen darauf hin, daß der Eindringling etwas stehlen wollte. »Als Yin dann zurückkam, verlor er den Kopf«, folgerte Zhong. »Ich bezweifle, daß es ein unmittelbarer Nachbar oder Bewohner der Gasse gewesen ist. Vermutlich war es ein Fremder, der das Zimmer auf gut Glück nach Werts a chen durchsucht hat. Wie das alte Sprichwort sagt: Ein Karnickel grast nicht vor dem eigenen Bau.«
Manches sprach für eine solche Vermutung. Schon seit Monaten streiften Wanderarbeiter durch das Viertel, aber das war nichts Ungewöhnliches in einer Stadt, die immer mehr Arbeitskräfte aus anderen Provinzen anzog.
Außerdem, dachte Hauptwachtmeister Yu, war es ve r ständlich, daß Zhong ihn von der Gasse ablenken wollte. Falls sich einer der Anwohner als Krimineller entpuppen sollte, würde das Komitee zur Verantwortung gezogen werden.
Als zweiter äußerte sich Genosse Qiao Lianyun, der Generaldirektor des Nachbarschaftskomitees. Er gab e i nen Hinweis, der Zhongs Theorie zu widersprechen schien. Dieser beruhte a uf Informationen von Peng Ping, die von allen »Krabbenfrau« genannt wurde, weil sie i h ren Lebensunterhalt bestritt, indem sie vor ihrer Haustür Krabben pulte. Die Tür ging auf die Seitengasse hinaus und lag dem Hintereingang des shikumen -Hauses gege n über. Die Krabbenfrau hatte ein Abkommen mit dem n a he gelegenen Markt. Sie mußte die gepulten Krabben vor acht Uhr liefern, da die Shanghaier Hausfrauen gewöh n lich in aller Frühe zum Einkaufen gingen. Daher begann sie ihre Arbeit in der Regel schon um Viertel nach sechs. Sie erinnerte sich nicht, Yin an diesem Morgen von ihren Tai-Chi-Übungen zurückkehren gesehen zu haben, doch hatte sie sich gegen halb sieben mit Lanlan unterhalten. Peng behauptete steif und fest, sie hätte sich an jenem Morgen nicht von der Stelle gerührt, bis sie den Aufruhr in Yins Haus gehört hatte und nachschauen gegangen war. Qiao hielt ihre Aussage für glaubhaft, denn die Krabbenfrau galt als verläßlich. Außerdem konnte sie mit ihren vom Krabbenschleim besudelten Fingern kaum irgendwo hingegangen sein. »Selbst wenn jemand ve r sucht hätte, das Haus heimlich durch die Hintertür zu verlassen, wäre er von ihr gesehen worden«, schloß Qiao. »Vor allem, wenn es ein Fremder war, der sich in aller Frühe dort hinausschlich. Und was die Vordertür anb e langt, so hielten sich an jenem Morgen mehrere Anwo h ner im Hof auf, die jeden bemerkt hätten, der das Haus verlassen wollte.«
Qiaos Argument wurde vom Alten Liang bekräftigt, der daraufhin zu einer ausführlichen Analyse der Siche r heit in der Gasse und ihren Gebäuden ausholte. Da es in der letzten Zeit mehrfach Diebstähle im Viertel gegeben hatte, sah sich das
Weitere Kostenlose Bücher