Schwarz auf Rot
Schrank mit großem Spiegel an der Tür, ein Sofa mit verblichenem rotem Bezug und ein Hocker, der auch als Nachttisch gedient haben mochte.
In einem Aschenbecher auf dem Tisch entdeckte er mehrere Zigarettenkippen. Braune Filter, eine amerikan i sche Marke namens »More«. Eine Art Schreibmaschine stand ebenfalls auf dem Tisch. Ein Computer war es j e denfalls nicht, da war sich Yu sicher. Vielleicht eine e lektrische Schreibmaschine.
In einem kleinen Wandschränkchen fand er mehrere Dosen mit Teeblättern, ein Glas Nestle ’ s löslicher Ka f fee, ein paar grobe Keramikschalen, ein Bündel Eßstä b chen in einem aus einer Wurzel geschnitzten Behälter, eine Tasse und ein Glas. Offenbar hatte sie hier kaum Gäste empfangen.
Das Bett war ordentlich gemacht, vermutlich von e i nem ihrer Nachbarn. Unter dem Laken gab es keine M a tratze; sie hatte auf den harten Holzplanken geschlafen. Die vergilbte, mit Baumwolle gestopfte Steppdecke mu ß te bereits vier oder fünf Jahre alt sein und war an vielen Stellen geflickt. Sie fühlte sich starr an unter seiner B e rührung. Das K i ssen, das keinen Bezug hatte, war im Vergleich zur Steppdecke relativ weiß.
Dann wandte er sich den Schubladen zu. Die oberste enthielt Quittungen von verschiedenen Geschäften, u n benutzte Briefumschläge und ein Reisemagazin. In der zweiten waren Notizbücher, ein Block, ein Stapel Papier und ein Bündel Briefe, von denen einige englische A b sender trugen. Der Inhalt der dritten war gut durc h mischt: ein kleines Sortiment an Modeschmuck – vie l leicht ein Souvenir ihres Hongkong-Aufenthalts –, eine Shanghai-Uhr mit Lederarmband und eine Halskette mit irgendeinem exotischen Tierknochen.
Der Inhalt des Kleiderschranks bestätigte seine Erwa r tungen. Die Kleidung war in tristen Farben gehalten, konventionell und meist von billiger Qualität. Die einzige Ausnahme bildete ein weißes Wollkleid, das nicht unb e dingt teuer, aber dennoch aus gutem Stoff war.
Auf dem Bücherregal standen chinesische und engl i sche Wörterbücher, die Geschichte der Han-Dynastie in mehreren Bänden, Ausgewählte Werke von Deng Xia o ping, sowie mehrere Exemplare von Tod eines chines i schen Professors und von Ausgewählte Gedichte von Yang Bing. Außerdem sah er einen Stapel alter Illustrie r ten, einige davon aus den vierziger und fünfziger Jahren, zwischen deren Seiten Lesezeichen hervorschauten.
Schließlich fand er ein altmodisches Photoalbum, auf dessen schwarzen Pappeseiten die Aufnahmen mit kle i nen Aluminiumsternchen festgehalten wurden. Die ersten Seiten enthielten ausschließlich Schwarzweißphotos. E i nige zeigten Yin als kleines Mädchen mit einem Pferd e schwanz. Dann folgten Farbaufnahmen von Yin mit dem roten Halstuch: eine junge Pionierin, die auf dem Schu l hof der Flagge mit den Sternen salutiert. Auf einem handkolorierten Photo stand sie glücklich lächelnd zw i schen einem weißhaarigen Mann und einer mageren kleinen Frau, vermutlich ihren Eltern, auf dem Volk s platz.
Er wandte sich einer Aufnahme zu, die 1967 oder 1968, also in den Anfangsjahren der Kulturrevolution, entstanden sein mußte. Darauf trug Yin die rote Armbi n de und hielt eine Rede auf einer Bühne, in deren Hinte r grund vor rotem Samtvorhang eine Reihe hoher Regi e rungsvertreter saßen. Sie war die Vertreterin der Roten Garden bei einer nationalen Studentenkonferenz gew e sen, doch trotz ihres politischen Ranges wirkte sie wie ein unerfahrenes Mädchen. Ihr Gesicht war nicht wir k lich jung, aber von jugendlicher Leidenschaft belebt. Das Ganze sah aus wie ein Plakat der Roten Garden, das er einmal gesehen hatte. Die folgenden beiden Seiten dok u mentierten die glanzvollsten Momente ihrer polit i schen Karriere. Ein Photo zeigte sie am Tisch mit hohen Parte i funktionären bei einer Konferenz in der Verbotenen Stadt.
Doch dann schien es eine Lücke zu geben. Nicht daß Photos gefehlt hätten, aber es gab einen abrupten Sprung von der jungen Rotgardistin zu der Frau mittleren Alters, die man im Türrahmen der Kaderschule stehen sah. Es war, als wäre sie mit dem Umblättern einer einzigen Se i te um zwanzig Jahre gealtert.
Als Yu das Album zuklappte, war es Zeit für sein Treffen mit dem Nachbarschaftskomitee.
Das Komitee war ursprünglich der verlängerte Arm der lokalen Polizeidienststelle gewesen, zuständig für alles, was außerhalb der jeweiligen »Arbeitseinheiten« der Leute lag. Es organisierte wöchentliche politische Schulungen, überprüfte die
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