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Schwarz-Indien

Schwarz-Indien

Titel: Schwarz-Indien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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freundlich in’s Gesicht.
    Dasselbe verneinende Zeichen von Nell’s Seite.
    – Nun, ich meine, wie viele Jahre zählst Du? erläuterte Madge ihre Frage.
    – Jahre?«… antwortete Nell verwundert.
    Wie für das Wort »Tag« schien das junge Mädchen auch für dieses zweite kein Verständniß zu haben.
    Simon Ford, Harry, Jack Ryan und die Uebrigen betrachteten sie mit dem doppelten Gefühle des Mitleids und der Sympathie. Der Zustand des armen, mit einem groben Rocke bekleideten Wesens rührte sie innig.
    Harry besonders fühlte sich noch mehr als die Anderen von der Eigenart Nell’s angezogen. Er sah Nell, deren Lippen sich dabei zu einem leichten Lächeln zu öffnen schienen, offen in’s Gesicht und sagte.
    »Nell… da unten… in der Grube… warst Du da allein?
    – Allein! Allein!« rief das junge Mädchen, sich aufrichtend.
    In ihrem Antlitz malte sich jetzt der Schrecken. Ihre unter den Blicken des jungen Mannes so sanften Augen sprühten jetzt ein fast unheimliches Feuer.
    »Das arme Kind ist noch zu schwach, uns Rede und Antwort zu stehen, meinte Madge, nachdem sie das junge Mädchen wieder niedergelegt hatte. Einige Stunden Ruhe und dann etwas Speise und Trank werden sie schon wieder kräftigen. Komm, Simon, und Du, Harry, und kommt Ihr anderen Alle, lassen wir sie ruhig schlummern!«
    Auf Madge’s Rath wurde Nell allein gelassen, und kurz darauf konnte man sich schon überzeugen, daß sie fest eingeschlafen war.
    Das ganze seltsame Ereigniß verfehlte natürlich nicht, erst in dem Kohlenwerke, dann in der Grafschaft Stirling und endlich in dem ganzen Vereinigten Königreiche das größte Aufsehen zu erregen. Die wunderbarsten Gerüchte über Nell kamen in Umlauf. Hätte man ein junges Mädchen direct in dem Schieferfelsen gefunden, wie eines jener vorsündfluthlichen Geschöpfe, welche Hammer und Fäustel des Bergmannes manchmal aus dem Jahrtausende alten Felsengrabe wieder an das Licht bringen, das Aufsehen wäre kaum ein größeres gewesen.
    Sich selbst unbewußt, kam Nell so zu sagen in die Mode. Abergläubische Leute fanden hier eine neue Unterlage für ihre Legenden. Sie glaubten steif und fest, Nell sei die gute Fee von Neu-Abersoyte, wie Jack Ryan das auch seinem Freunde Harry gegenüber aussprach.
    »Es sei, erwiderte Harry, um ein solches Gespräch nicht auszudehnen, es sei, Jack. Aber jedenfalls ist sie nur die gute Fee. Sie war es, die uns zu Hilfe kam und uns Brot und Wasser brachte, als wir in der Kohlengrube eingesperrt waren. Das kann nur sie gewesen sein. Wenn der andere böse Geist aber noch in der Grube haust, so werden wir ihn schon eines Tages entdecken.«
    Es versteht sich von selbst, daß man den Ingenieur James Starr schleunigst von dem Vorgefallenen unterrichtete.
    Das junge Mädchen, welches am Tage nach der Ankunft in der Cottage ihre Kräfte völlig wieder gewonnen hatte, wurde von ihm nach allen Seiten befragt. Ihr schienen die meisten Dinge des Lebens völlig unbekannt. Dennoch erweckte sie den Eindruck einer mehr als gewöhnlichen Intelligenz, nur daß ihr einzelne Begriffe, unter anderen der der Zeit, völlig abgingen. Man merkte es, daß sie nicht gewöhnt war, die Zeit in Stunden oder Tage zu theilen und daß sie selbst diese Worte nicht einmal kannte. Ihre an eine ununterbrochene Nacht gewöhnten Augen vertrugen nur schwierig den Glanz der elektrischen Sonnen; in der Finsterniß aber crreichte ihr Blick eine überraschende Schärfe, und die weitgeöffneten Pupillen gestatteten ihr, selbst bei tiefer Dunkelheit noch zu sehen. Eindrücke von der Außenwelt schien ihr Gehirn noch nicht erhalten zu haben; sie umgab nie ein anderer Horizont, als die dunkle Kohlengrube; was sie von der Menschheit kannte, beschränkte sich gewiß auf eines oder wenige in dieser Aushöhlung der Erde lebende Wesen. Wußte dieses arme Kind überhaupt, daß es eine Sonne und Sterne, Städte und Länder, daß cs ein Weltall gab, durch welches ungezählte Weltkörper kreisten? Daran mußte man zweifeln bis zu der Stunde, in welcher gewisse ihr noch unbekannte Worte in ihrem Geiste eine feststehende Bedeutung gewannen.
    Auf die Lösung der Frage, ob Nell in den Tiefen von Neu-Abersoyte allein gelebt habe, mußte der Ingenieur verzichten. Jede Anspielung hierauf erfüllte dieses eigenthümliche Wesen mit schauderndem Entsetzen. Entweder wollte oder konnte Nell hierauf nicht antworten; jedenfalls aber war hier noch ein Geheimniß zu entschleiern.
    »Willst Du hier bei uns bleiben, oder dahin

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