Schwarz-Indien
Herrlichkeiten der Welt zu geben, die Deine Augen noch nicht erblickten. Doch sage mir, ist das möglich, daß Du seit dem Tage Deiner Geburt in der dunklen Kohlengrube niemals die Oberfläche der Erde betreten hättest?
– Niemals, Harry, und ich glaube auch nicht, daß mich der Vater oder die Mutter, selbst als ich noch ganz klein war, jemals dahin getragen haben. Ich würde doch eine dunkle Erinnerung an die Außenwelt bewahrt haben.
– Ich glaub’ es, antwortete Harry. Zu jener Zeit verließen auch manche Andere niemals das Werk. Die Verbindung mit der Außenwelt war zu beschwerlich, und ich habe mehr als einen jungen Burschen oder ein junges Mädchen gekannt, die in Deinem Alter ganz so wie Du nichts von den Dingen da oben wußten. Jetzt befördert uns aber die Eisenbahn des großen Tunnels in wenigen Minuten nach der Oberfläche der Grafschaft. O, Nell, wie sehne ich die Stunde herbei, wo Du mir sagen wirst: »Komm, Harry, meine Augen vertragen nun das Licht des Tages, ich will die Sonne schauen! Ich will die Werke des Schöpfers bewundern!«
– Ich hoffe, Harry, antwortete das junge Mädchen, recht bald so zu Dir sprechen zu können. Ich werde mich laben an dem Anblick der Außenwelt, und doch…
– Was willst Du sagen, Nell? fragte Harry lebhaft. Bedauerst Du vielleicht, den finsteren Abgrund verlassen zu haben, in dem Du Deine ersten Lebensjahre verbrachtest und dem wir Dich dem Tode nahe entrissen haben?
– O nein, Harry, erwiderte Nell, mir kam nur der Gedanke, daß auch die dunklen Tiefen ihre Schönheiten haben. Wenn Du es wüßtest, was die allein an diese Finsterniß gewöhnten Augen da Alles erkennen! Manchmal huschen dort Schatten vorüber, denen man so gern in ihrem Fluge folgte. Ein andermal schlingen sich wunderbare Kreise vor dem Auge durcheinander, in deren Mitte man so gerne bleibt. Tief im Grunde der Grube giebt es finstere Schluchten, durch welche dann und wann ein ungewisser Schein zittert. Dann hört man wohl Geräusche, welche zu sprechen scheinen; – siehst Du, man muß da unten gelebt haben, um zu verstehen, was ich Dir mit Worten nicht zu schildern vermag.
– Und Du fühltest keine Angst, Nell, wenn Du da allein warst?
– Wenn ich allein war, Harry, antwortete das junge Mädchen mit besonderer Betonung, fürchtete ich mich niemals!«
Harry bemerkte es, er glaubte den günstigen Augenblick benützen zu müssen, um vielleicht noch mehr zu erfahren.
»Doch man konnte sich verirren in den langen Gängen, Nell. Hättest Du das niemals befürchtet?
– Nein, Harry, ich kannte alle Stollen und Schächte der neuen Kohlengrube schon lange Zeit sehr genau.
– Verließest Du dieselbe niemals?…
– Doch… einige Male… antwortete das junge Mädchen zögernd, ich kam wohl auch bis zu dem alten Werke von Abersoyte.
– Du kanntest demnach auch die alte Cottage?
– Die Cottage… ja… aber deren Bewohner so gut wie gar nicht’
– Die Bewohner derselben, erklärte ihr Harry, waren mein Vater, meine Mutter und ich. Wir hatten unsere alte, lieb gewordene Wohnung nicht verlassen wollen.
– Vielleicht wäre es für Euch doch besser gewesen… murmelte das junge Mädchen.
– Und weshalb, Nell? Danken wir die Auffindung der neuen Kohlenschätze nicht unserem treuen Ausharren? Und war diese Entdeckung nicht von den wohlthätigsten Folgen für eine ganze Bevölkerung, deren Wohlstand die Arbeit neu begründete; auch für Dich, Nell, welche, dem Leben zurückgegeben, Herzen fand, die Dir ganz und gar gehören?
– Für mich! antwortete Nell lebhaft… Ja, was auch kommen könne! Für die Anderen?… wer weiß?…
– Was willst Du damit sagen?
– Nichts… nichts!… Aber das erste Eindringen in die neuerschlossene Grube hatte seine Gefahren; ja, seine großen Gefahren. Einmal, Harry, waren einige Unvorsichtige in diese unbekannten Gänge gerathen: sie wagten sich weit, weit hinein, zuletzt haben sie sich verirrt…
– Verirrt? unterbrach sie Harry und sah sie beobachtend an.
– Ja… verirrt… wiederholte Nell mit zitternder Stimme. Ihre Lampe verlosch, sie konnten den Rückweg nicht finden.
– lind blieben dort acht Tage eingeschlossen, setzte Harry ihre Rede fort. Sie wären bald dabei umgekommen, hätte ihnen Gott nicht ein hilfreiches Wesen, vielleicht einen Engel, gesendet, der sie geheimnißvoll mit etwas Nahrung versorgte, und nicht einen wunderbaren Führer, der ihnen später ihre Befreier zuführte. Ohne dem hätten sie nie wieder jenes ungeheure Grab
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