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Schwarz-Indien

Schwarz-Indien

Titel: Schwarz-Indien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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directen Angriffe gegen ihn auf. Jetzt drohte aber eine weit schrecklichere Gefahr, denn jener krallte sich zwei Fuß über Harry’s Kopfe und so weit, daß er ihn mit der freien Hand nicht erreichen konnte, an dem Seile fest, und suchte es mit seinem furchtbaren Schnabel zu zerstören.
    Harry’s Haare sträubten sich.
    Eine Trosse war schon zerhackt und zerrissen. Mehr als hundert Fuß über dem Grunde der Schlucht begann das Seil sich zu dehnen.
    Harry stieß einen entsetzlichen Schrei aus.
    Eine zweite Trosse löste sich unter der doppelten Last, welche das halb zerstörte Seil jetzt tragen mußte.
    Harry ließ sein Messer fallen und es gelang ihm vermöge einer übermenschlichen Anstrengung, gerade als das Seil dem Zerreißen nahe war, dasselbe mit der rechten Hand über jener durch den Schnabel des Vogels zerbissenen Stelle zu ergreifen. Trotz seiner eisenfesten Hand fühlte er das Seil aber doch langsam durch seine Finger gleiten.
    Er hätte sich an demselben mit zwei Händen halten können, wenn er das Kind opferte, welches sein linker Arm noch hielt… Nein, er wollte daran gar nicht denken.
    Inzwischen zogen ihn Jack Ryan und die beiden anderen Bergleute, da sie Harry’s verzweifeltes Rufen vernommen hatten, immer schneller empor.
    Harry glaubte nicht, daß seine Kräfte ausreichen würden, bis er die Schachtmündung erreichte. Das Blut schoß ihm in’s Gesicht. Einen Augenblick schloß er die Augen mit der gräßlichen Erwartung, in die Tiefe zu stürzen, dann öffnete er sie wieder…
    Der offenbar erschreckte Vogel war verschwunden.
    Gerade als Harry’s Hand das Seil entgleiten wollte, um dessen äußerstes Ende seine Faust sich krampfhaft schloß, ward er von seinen Genossen ergriffen und sammt dem Kinde auf den Boden niedergelegt.
    Doch eine Nachwirkung konnte hier ja nicht ausbleiben. – Harry war bewußtlos in den Armen seiner Kameraden zusammengebrochen.
Fünfzehntes Capitel.
Nell in der Cottage.
    Zwei Stunden später kamen Harry, der die Besinnung nicht so schnell wieder erhalten hatte, und das überaus schwache Kind mit Hilfe Jack Ryan’s und seiner Kameraden in der Cottage an.
    Jetzt erzählte man dem alten Obersteiger das Vorgefallene, und Madge widmete dem armen, von ihrem Sohne geretteten Geschöpfe die sorgsamste Pflege.
    Harry hatte ein Kind aus dem Abgrund zu bringen geglaubt… es war schon ein junges Mädchen von etwa sechzehn Jahren. Ihr irrender, verwunderter Blick, ihr eingefallenes Gesicht, dem man die Spuren grausamer Leiden ansah, ihre helle Farbe, welche vom Tageslichte noch unberührt schien, ihre zarte und niedliche Gestalt – Alles ließ sie eben so fremdartig als reizend erscheinen. Jack Ryan verglich sie mit einigem Recht mit einem Kobold von etwas übernatürlichem Aussehen. War es eine Folge der eigenthümlichen Umstände, der ganz ungewöhnlichen Umgebung, in der das junge Mädchen bis jetzt offenbar gelebt hatte, daß sie dcm menschlichen Geschlecht nur zur Hälfte anzugehören schien? Ihr Gesichtsausdruck mußte Jedem auffallen. Erstaunt und doch schüchtern blickten ihre Augen, welche die Lampen der Cottage anzustrengen schienen, umher, als ob ihnen Alles neu erschiene.
    Die alte Schottin richtete an dieses eigenthümliche Wesen, das man auf Madge’s Bett niedergelegt hatte, und welches wieder zum Leben kam, als erwache es aus einem jahrelangen Schlafe, einige freundliche Worte.
    »Wie heißt Du, mein Kind? fragte sie.
    – Nell, 1 antwortete das junge Mädchen.
    – Fehlt Dir etwas, Nell? fuhr Madge fort.
    – Mich hungert, erwiderte Nell. O, ich habe nichts gegessen seit…«
    Man hörte es schon bei diesen wenigen Worten, daß Nell nicht gewöhnt war, zu sprechen. Ihr Dialect war der alt-gaëlische, den auch Simon Ford und die Seinigen häufig gebrauchten.
    Madge brachte dem jungen Mädchen einige Nahrung. Nell war nahe daran, vor Hunger zu sterben. Seit wann befand sie sich im Grunde jenes Schachtes? Niemand wußte es.
    »Wie viele Jahre lang warst Du dort unten, meine Tochter?« fragte ste Madge.
    Nell antwortete nicht; sie schien den Sinn der Worte nicht zu fassen.
    »Seit wieviel Tagen?… wiederholte Madge.
    – Tagen?«… erwiderte Nell, für welche jenes Wort gar keine Bedeutung zu haben schien.
    Dann schüttelte sie kurz mit dem Kopfe, wie Jemand, der eine an ihn gestellte Frage nicht versteht.
    Madge hatte Nell’s Hand ergriffen und streichelte sie, um jene zutraulicher zu machen.
    »Wie alt bist Du denn, mein Kind? fragte sie weiter und schaute ihr

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