Schwarzbuch Bundeswehr - Überfordert, demoralisiert, im Stich gelassen -
welchen Punkten eine Ähnlichkeit und in welchen eine grundlegende Differenz der Systeme besteht, all das ist bisher weder dargestellt noch für die deutschen Soldaten zu einem Verhaltenskodex aufbereitet worden, der vor dem Einsatz Schulungsthema und währenddessen Rechtsgrundlage sein könnte.
So beklagen viele Soldaten diesen ungeklärten Zwiespalt, der aus unterschiedlichen Rechtsauffassungen resultiert und dem sie täglich ohne verbindliche Verhaltensnormen ausgesetzt sind. Auch aus diesem Grund soll hier – wahrscheinlich erstmalig – der Versuch unternommen werden, durch die Gegenüberstellung der deutschen Rechtsgrundlagen und der internationalen Rechtsnormen, die bei einem Krieg zur Anwendung kommen, und schließlich der davon abweichenden Rechtssysteme in einem islamischen Land wie Afghanistan etwas Klarheit in diesen bisher vernachlässigten Aspekt zu bringen.
In Deutschland definiert einerseits das Grundgesetz die Rechtsnormen im Kriegsfall, andererseits gibt es, daraus abgeleitet und in Widerspruchsfreiheit zum Grundgesetz, verschiedene Einzelgesetze wie das Notwehr- und das Nothilfegesetz und den sogenannten Jedermanns-Paragrafen.
Notwehr/Nothilfe
»ist diejenige Verteidigung, die erforderlich ist, einen gegenwärtigen, rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwehren«.
Um Notwehr handelt es sich, wenn man sich in diesem Sinne selbst verteidigt, um Nothilfe geht es, wenn man einem oder auch mehreren anderen gegen einen rechtswidrigen Angriff zu Hilfe kommt. Unterlassene Nothilfe behandelt das Gesetz wie unterlassene Hilfeleistung bei einem Unfall, sie ist strafbar.
»Erforderlich« bedeutet: Die Verhältnismäßigkeit der Mittel ist unbedingt zu wahren, man denke an das anschauliche Beispiel mit den Spatzen und den Kanonen.
»Gegenwärtig« heißt: Der Angriff muss zur Tatzeit bereits begonnen haben oder unmittelbar und erkennbar bevorstehen, und er darf noch nicht beendet sein. Hier muss man leider an das problematische und oft missbrauchte Argument, dass Angriff die beste Verteidigung sei, erinnern.
»Rechtswidrig« meint: Diese Art der Verteidigung ist nicht zulässig, falls der Angreifer bereits selbst in Notwehr handelt.
Immer jedoch ist Notwehr eine Verteidigung, eine Handlung zum Schutz von Personen oder Rechtsgütern der Angegriffenen. Eigentum, Besitz, Leben, Freiheit, selbst ein so schwammiger Begriff wie »Ehre« genügen dem Gesetz zur Rechtfertigung von Gewaltanwendung.
Zusätzlich wichtig für den Themenkomplex Notwehr ist der Begriff »Notwehrüberschreitung« (Notwehr wurde nur vorgeschützt, um Eigeninteressen durchzusetzen). Diese Handlung ist strafbar.
Und schließlich die »Putativ-Notwehr«; das heißt, eine unvermeidbare und auch nachweisbare Fehleinschätzung hatte dazu geführt, die Gewaltanwendung in jener Situation mit Notwehr zu rechtfertigen. Die Putativ-Notwehr ist nicht strafbar.
Der Jedermanns-Paragraf
»Wird jemand auf frischer Tat angetroffen oder verfolgt, so ist, wenn er der Flucht verdächtig ist oder seine Identität nicht sofort festgestellt werden kann, jedermann befugt, ihn auch ohne richterliche Anordnung vorläufig festzunehmen.« Dieser Paragraf gilt natürlich nur bei Abwesenheit der Polizei und nur, solange sie nicht verfügbar ist, um die Straftat weiterzuverfolgen.
Nach so viel Theorie zu einem praktischen Beispiel, das direkt aus dem Kriegsgebiet in Afghanistan stammt und in dem das Dilemma der deutschen Soldaten, was unterschiedliche Rechtssysteme anbelangt, augenfällig wird.
Schon vor einem Eintreffen im Einsatzland wird deutschen Soldaten eingeschärft, dass sie deutschem Recht unterstehen, dass sie sich auch vor Ort in Afghanistan an die Gesetze der Bundesrepublik Deutschland zu halten haben. Nun stelle man sich vor, die deutschen Soldaten treffen auf einem Dorfplatz in der Nähe von Kabul auf eine Menschenmenge, die sich dort versammelt hat, um der Bestrafung von Landsleuten beizuwohnen, die Gesetze übertreten haben. Weder ist den Soldaten die Art der Vergehen bekannt, noch sind sie vertraut mit der Art der vor Ort durchgeführten Bestrafung: Stockhiebe auf die Fußsohlen von Frauen, denn es sind nur weibliche Delinquenten anwesend.
Die Soldaten beobachten das Geschehen, werden durch die Schmerzensschreie der Frauen immer unruhiger und schließlich fragt einer von ihnen den Vorgesetzten, ob sie nicht einschreiten sollten. Dieser verbietet ein Eingreifen mit der Begründung, die Situation könne eskalieren, da so
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