Schwarzbuch Bundeswehr - Überfordert, demoralisiert, im Stich gelassen -
Situation weiter eskaliert; doch wahrscheinlich ist der gegenseitige Schlagabtausch nun zu Ende und die gegenseitige Wertschätzung grundsätzlich geklärt, was in einem Land wie Afghanistan von zentraler Bedeutung ist – nicht nur für Soldaten, aber auch für sie.
Der Leser sollte nun keinesfalls den Eindruck bekommen, als würde hier dem wild um sich schlagenden oder gar schießenden Bürger in Uniform ein Ehrenmal errichtet oder die Eskalation gewalttätiger Ausschreitungen in Afghanistan mit differierenden Verhaltensnormen schöngeredet. Es geht lediglich um die Klarstellung, wie schwierig es ist, Soldaten auf solche landestypischen Verhaltensweisen vorzubereiten – und um die Forderung, dass eine solche Vorbereitung endlich gründlich erfolgen muss. Denn bisher muss hier das Urteil »Fehlanzeige« lauten. Den Soldaten muss klar gesagt werden, was sie im Einsatzgebiet dürfen und was sie nicht dürfen, aber auch, was ihnen trotz einer Entscheidung nach bestem Wissen und Gewissen eben doch passieren kann, weil ihre Maßstäbe die falschen waren.
Aus dieser Sorgfaltspflicht kann man weder das militärische Führungspersonal noch die für die Bundeswehr politisch Verantwortlichen entlassen. Ein Fehlurteil im Bereich Benimmregeln führt im Privatleben vielleicht zu einem blauen Auge, im Krieg kostet es die Gesundheit, wenn nicht sogar das Leben von Menschen.
Noch schlimmer wird die Situation, wenn es nicht um den Verhaltenskodex, sondern um staatlicherseits geregelte Gesetze und deren Übertretung geht. Aus diesem Grund soll hier kurz versucht werden, auch auf die afghanische Gesetzgebung einzugehen.
Die Scharia
ist das religiös legitimierte, unabänderliche und für alle sich in einem islamischen Land aufhaltenden Menschen gültige grundlegende Gesetzeswerk. Wie das deutsche Grundgesetz bildet die Scharia die Basis, aus der die Einzelgesetze hervorgehen, die nie im Widerspruch zu ihr stehen dürfen. Alle Beziehungen sowohl des öffentlichen wie des privaten Lebens müssen im Sinne der Scharia geregelt werden, genau wie das Grundgesetz für unser gesamtes privates und öffentliches Leben die Grundlage bildet.
Der erste und grundlegende Unterschied zwischen beiden Rechtssystemen besteht darin, dass unser Grundgesetz von Menschen erlassen wurde, die Scharia hingegen religiös legitimiert wird. Unsere Rechtsnormen sind folglich weniger vom Geist der Unfehlbarkeit durchzogen, interpretierbarer, in gewissem Sinne weicher als die bereits im Koran als Wort des Propheten niedergelegte Rechtsnorm der Scharia. Die sinngemäße Übersetzung des Begriffs Scharia würde wohl »der Weg zur Tränke« lauten. Die Scharia ist der verbindliche Weg zu Gott, den alle Menschen einzuschlagen haben, sobald sie sich auf die Suche nach ihrer eigenen Quelle machen.
Hier könnte man nun einen zweiten Unterschied zwischen der Scharia und unserem Grundgesetz herauslesen: Die Anordnungen der Scharia sind für alle Menschen in einer islamischen Gesellschaft verbindlich – auch für die anwesenden Nicht-Muslime. Grundlegend ist dieser Unterschied allerdings nicht, denn auch in Deutschland haben sich alle an unsere Gesetze zu halten, und auch bei uns wird zunehmend allen sich auf unserem Staatsgebiet befindenden Personen ein »Bekenntnis zu unserer Leitkultur« und ein öffentliches Gelöbnis der »Treue zum Grundgesetz« abgefordert.
So verwundert es nicht, dass natürlich auch die Soldaten der Bundeswehr, sobald sie sich auf afghanischem Territorium aufhalten, der Scharia unterliegen. Nicht weniger verlangen auch wir von allen Personen, die unser Staatsgebiet betreten, wenn wir sie daran erinnern, dass für sie das deutsche Grundgesetz bindend ist, solange sie sich hier aufhalten.
Noch einmal zu jenem Unterschied zwischen Grundgesetz und Scharia, der für die Legitimierung des Rechtssystems herangezogen wird: auf der einen Seite das von Menschen gemachte Regelwerk und auf der anderen Seite die durch die Worte des Propheten im Koran, letztendlich von Gott selbst vorgeschriebenen Verhaltensnormen. Bisweilen sind die Vorschriften für vorbildliches Handeln nicht im Koran zu finden und nur mündlich überliefert oder aufgrund mehrdeutiger Aussagen unterschiedlichen Interpretationen ausgesetzt. So kann es passieren, dass in verschiedenen Dörfern Afghanistans Gesetzesauslegungen und -anwendungen der Scharia zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen können, obwohl alle auf der Grundlage der gleichen Gesetzestexte zu entscheiden
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