Schwarze Pest aus Indien
1. Verbrecher und Küchenmädchen
Auf dem Steckbrief sah er nicht aus wie
ein Verbrecher — jedenfalls nicht wie ein hauptberuflicher.
Gaby hatte den Steckbrief mehr oder
minder heimlich bei ihrem Vater, dem Kripo-Kommissar, im Präsidium abgestaubt
und mitgebracht ins Internat.
Auseinandergefaltet lag das
Fahndungsplakat jetzt auf einem Tisch des Freizeitraums III im
Internatshaupthaus. Tim, den man früher Tarzan genannt hatte, Computer-Karl und
Klößchen beugten sich vor und musterten das Fahndungsfoto von Detlef Knobel aus
schmalen Augen.
Gaby stand am Kopfende des Steckbriefs.
Sie hatte den Blick auf Klößchen gerichtet.
„Tja“, meinte das dicke TKKG-Mitglied
und runzelte die Stirn, „ich bin mir absolut sicher — mindestens zu 80 oder 85,
sagen wir zu 83 Prozent — daß er’s ist.“
„Ein Hammer!“ murmelte Tim. „Echt! Das
ist ein Schlag ins Gesicht.“
„Bei 83Prozent“, sagte Karl, „muß man
dem Irrtum eine Chance einräumen. Möglicherweise hatte Willi gerade einen
Schokoladenkrümel im Auge und hat sich getäuscht.“
„Unsinn!“ schmetterte Klößchen den Einwand
ab. „Schoko habe ich immer nur im Mund, nie im Auge. Was die Prozente betrifft,
verbessere ich mich. Mit 89- bis 91prozentiger Gewißlichkeit ist dieser Detlef
Knobel der Typ, mit dem sich Claudia Tümmel abgeknutscht hat. In der
Lippstress-Straße, kurz vor der Bushaltestelle.“
„Wahnsinn!“ meinte Tim. „Dabei gehe ich
davon aus, daß du diesen Verdacht nicht leichtfertig äußerst.“
„Leichtfertig bin ich nie“, erklärte
Klößchen im Brustton der Überzeugung, „sondern mir der Verantwortung bewußt.“ Gaby
lächelte arglistig, sagte aber nichts.
Klößchen pumpte die Backen auf, starrte
auf den Steckbrief und nickte noch zweimal.
Tim hob den Kopf, sah durch das hohe
Fenster hinaus und dachte nach.
Im Park der Internatsschule wirbelte
der Herbstwind bunte Blätter durch die Luft. Letzte Nacht hatte es geregnet.
Der fahle Rasen war feucht.
Außer der vierköpfigen TKKG-Bande
befand sich niemand im Freizeitraum III. Eigentlich stand jetzt Biologie auf
dem Unterrichtsplan. Aber Studienrat Pflanzl war an Oktober-Grippe erkrankt.
Daher fiel die Stunde aus, und die TKKG-Bande nutzte das zu einer
Lagebesprechung.
„Ich fasse zusammen“, sagte Tim: „Als
Willi gestern nachmittag in einem Süßwarenladen der Lippstress-Straße seinen
Schoko-Vorrat aufstockte, sah er zufällig, wie unsere Küchenhelferin Claudia
Tümmel nahe der Bushaltestelle mit einem Typ schmuste. Sie umarmten und küßten
sich. Willi vermeinte in dem Mann jenen — von aushängenden Steckbriefen her
hinlänglich bekannten — Detlef Knobel zu erkennen. Das hat sich nun fast zur
Gewißheit verdichtet.“
„Ich erhöhe auf 96Prozent“, sagte
Klößchen. „Doch, doch, der war’s.“
„Als externe (nicht im Internat
wohnende ) Schülerin“, sagte Gaby, „kenne ich diese Claudia Tümmel gar
nicht.“
„Deshalb ist sie auch mir völlig
fremd“, nickte Karl.
Tim gab Auskunft.
„Claudia ist ungefähr achtzehn,
vielleicht achtzehneinhalb. Leidlich hübsch, etwas drall. Sie lacht ziemlich
schrill und hat manchmal abgebrochene Fingernägel. Sie wohnt hier in der Penne,
drüben im Angestelltenhaus, wo alle Köchinnen untergebracht sind. Unangenehm
ist sie uns noch nicht aufgefallen. Oder, Willi?“
„Im Gegenteil“, versicherte Klößchen
eilig. „Mir gibt sie Extraportionen, wann immer ich will. Wenn sie im
Speisesaal bedient, kann ich mich nicht beklagen. Deshalb habe ich jetzt ein
ganz schlechtes Gewissen, daß ich sie so in die Bratpfanne haue.“
„Was soll das?“ pfiff Tim ihn an.
„Deine Extraportionen und Claudias Umgang mit einem gesuchten Verbrecher sind
zweierlei Hüte. Bei uns kommt erst die Moral — will sagen: Recht und Gesetz —
und dann der Internatsfraß.“
„Wenn sie wirklich geknutscht haben“,
sagte Karl, „kann man davon ausgehen, daß sie sich näher kennen. Oder ist diese
Claudia eine, die sich von jemanden abküssen läßt, mit dem sie zufällig an der
Haltestelle steht?“
„Natürlich nicht!“ erwiderte Klößchen.
„Claudia Tümmel hat das richtige Augenmaß für Männer und Macker. Das erkennt
man schon an meinen Extraportionen.“
Für einen Moment schwiegen alle.
Tim sah in Gabys Kornblumen-Augen, und
sie erwiderte den Blick, als wäre draußen Mai und nicht Herbst.
„Hast du deinen Vater befragt, Gaby?“
„Habe ich. Detlef Knobel ist 29 Jahre
alt, kriminell seit 16,
Weitere Kostenlose Bücher