Schwarze Schafe in Venedig
obwohl ich es nur zu gerne hergegeben hätte, um mein altes Leben wiederzubekommen, das ich geführt hatte, bevor Graziella hereingeplatzt war wie eine biblische Plage.
Ich rauchte meine letzte Zigarette und wartete bis zum Abend, ehe ich mich den Freuden des Gemeinschaftsbads hingab, wo ich in einem spärlich tröpfelnden Rinnsal eiskalten Wassers ohne Seife oder Shampoo zu duschen versuchte. Es gab kein Handtuch zum Abtrocknen, weshalb ich notgedrungen den Smoking auf links drehen und stattdessen ihn benutzen musste. Dann stieg ich in frische Kleider, zog vorsichtig die Baseballkappe über die schmerzende Stelle am Hinterkopf, packte meine Habseligkeiten zusammen und marschierte hinaus in das graue winterliche Licht.
Auf den Betonstufen zum Bahnhof Santa Lucia drängten sich Rucksacktouristen und Tagesausflügler. Ich schlängelte mich hindurch und hatte das Gefühl, aus der Menge hervorzustechen wie ein bunter Hund. Der glänzende Metallkoffer passte nicht besonders gut zu dem blauen Sweatshirt und der Jeans, den ausgelatschten Turnschuhen und der knallroten Ferrari-Kappe, und vermutlich wäre ich in einem eleganten Dreiteiler wesentlich weniger aufgefallen. Aber leider war da momentan nichts zu machen, also beschränkte ich mich darauf, den Kopf einzuziehen und die Augen hinter der Schirmmütze zu verstecken. Zugegeben, dadurch riskierte ich es, mich noch verdächtiger zu machen, aber anders wäre es vermutlich weitaus schlimmer gewesen.
Eine elektronische Anzeigetafel, an der sämtliche abfahrenden Züge angeschlagen waren, hing hoch über den Köpfen der Menschen in der Bahnhofshalle, und ich musste den Kopf in den Nacken legen, um mein Gleis darauf ablesen zu können. Es roch nach Dieselabgasen und Bremsstaub, und dazwischen zogen die Düfte eines Fastfood-Büfetts vorbei. Mein Zug war der nächste und stand schon zur Abfahrt bereit, ich hatte nicht mal mehr fünf Minuten Zeit, also umkurvte ich schnell ein junges Pärchen mit Rucksäcken, auf denen gestickte Kanadaflaggen prangten, und verfiel in einen schwerfälligen Trott.
Der Stendhal – ein Nachtzug, der über Padua, Vicenza, Verona und Brescia nach Paris fuhr – bestand aus einer langen Kette blau-weißer Waggons, manche davon mit Schlafabteilen und andere mit Liegesesseln ausgestattet. Ich war schon fast am letzten Schlafwagenabteil angekommen und fürchtete bereits das Schlimmste, als ich endlich Alfred und Victoria entdeckte, die mir aus einem halb geöffneten Fenster entgegenschauten.
Mit einem Blick über die Schulter vergewisserte ich mich, dass die Luft rein war. Ein Mann im grünen Overall leerte Mülltüten in einen Abfallwagen, während eine Dame mit Kaschmirschal und Sonnenbrille ihren kleinen Chihuahua auf dem Arm zum Waggon nebenan trug. Weiter vorne stand ein sehniger Schaffner in blauer Trenitalia-Uniform und winkte mir, ich solle einsteigen. Mühsam wuchtete ich mich und mein Gepäck die Stufen hinauf und stolperte in unser Dreibettabteil, wo ich mit einer ungestümen Umarmung begrüßt wurde, die mir fast die Luft abdrückte.
»Langsam, Vic.« Vorsichtig befreite ich mich aus ihrem Klammergriff und versuchte, ihren leicht verschleierten Blick geflissentlich zu übersehen. Allem Anschein nach hatte sie sich in Unkosten gestürzt und sich eine neue Garderobe zugelegt. Das grüne Abendkleid hatte sie gegen eine hellbraune Baumwollhose und einen rosa Pulli über zitronengelber Bluse eingetauscht.
»Ist dir jemand gefolgt?«, fragte sie.
»Natürlich nicht«, gab ich zurück. »Nur keine Sorge.«
Ich warf mein Gepäck auf den Sitz neben Alfred, dann holte ich den Koffer heraus, damit die beiden ihn mit eigenen Augen sehen konnten.
»Großer Gott«, brummte Alfred. »Ist das, was ich glaube, was es ist?« In null Komma nichts war er auf den Beinen und schlug mir derart beherzt auf den Rücken, dass die Messingknöpfe seines marineblauen Blazers nur so klirrten. »Wie um alles in der Welt sind Sie da drangekommen?«
»Ist eine lange Geschichte«, sagte ich. »Aber setzen Sie sich doch. Ich bin froh, wenn ich sie jemandem erzählen kann.«
Eine halbe Stunde später, wir rollten gerade an rußgeschwärzten Güterwaggons, einem Doppeldecker-Pendlerzug und einem unbeleuchteten Fußballstadion vorbei aus Padua heraus, war ich mit meinem Lagebericht fertig. Ein Schaffner hatte uns kurz nach der Abfahrt aus Venedig unterbrochen, um unsere Pässe zu kontrollieren und sich zu erkundigen, wann wir im Speisewagen zu Abend essen wollten.
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