Schwarze Schmetterlinge
Körper kann auch nicht mehr, wie ich will.
Vielleicht war das die stärkste Empfindung. Ein Gefühl, dass der Tod nicht mehr allzu entfernt war. War es schon bald an der Zeit? War die Begegnung mit der schwarz gekleideten Frau der Anfang vom Ende? Hatte sie deshalb solch eine Angst im Herzen, solch eine Unruhe in den Gedanken empfunden? Aber sie hatte auch eine Erleichterung gespürt. Seit der misslungenen Operation im rechten Bein mit ständigen Schmerzen als Folge, hatte eine unbestimmte Todessehnsucht in ihr Gestalt angenommen.
Durch das Wohnzimmerfenster sah sie den neuen Mercedes vor der Tür stehen. Ihr Mann war gekommen, um sie abzuholen. Die Wohnung in Varberga war ein Kompromiss. Bei seiner hohen gesellschaftlichen Stellung war es ihm wichtig, dass seine Frau ihrer obskuren Tätigkeit außerhalb ihrer vier Wände und unter Pseudonym nachging. Obskure Tätigkeit – genau diesen Ausdruck hatte er benutzt, obwohl er wusste, dass sie das zutiefst kränkte.
7
Pyret hatte ganz still auf einer Bank im Stadtpark gesessen, im sogenannten Klostergarten, der durch Hecken vom übrigen Park abgetrennt war. Sie wusste nicht genau, wie lange. Die Gedanken waren wie Wellen herangerollt, hatten einander abgelöst, während die Stunden vorüberglitten. Der Mond spiegelte sich im Teich, und das Spiel von Licht und Schatten um Steine und Büsche machte die Natur zu lebendigen Wesen. Noch bewegten sie sich. Vor allem die Buchsbäume, die zu einem Bären, einem Eichhörnchen und einem Pfau beschnitten worden waren. Noch flüsterten sie einander etwas zu, ohne sich darum zu scheren, dass sie sie hören konnte. Hier im Schatten verspürte sie Sicherheit. Hier sah sie eine Möglichkeit, die Nacht zurückzuerobern.
Nüchtern, wachsam und anständig gekleidet nahm sie sich das Recht, auch als Frau nach Einbruch der Dunkelheit allein unterwegs zu sein. Nie wieder würde sie sich von der Angst, die sie gelähmt und in ihren vier Wänden eingesperrt hatte, steuern lassen. In der Dunkelheit lag eine Geborgenheit. Wenn man sich nah an die Bäume lehnte, ihrer Form folgte, dann konnte man in der Schwärze der Nacht eins werden mit dem Stamm, mit dem Schatten unter den Büschen oder mit den großen Steinen.
Die Nachtluft war kühl und leicht zu atmen. Über dem Klostergarten schwebten schwache Düfte von Thymian, Lavendel und Moschus. Mit dem Wind zogen Wolken von Rosenduft heran. Nach dem warmen Sommer waren die Rosen immer noch so reich an Blüten. Sie berührte sie mit einem Gefühl des Besitzerrechts, als wäre der Park ihr eigener Garten. Ein grauer Lustgarten im Mondenschein, ohne aufdringliche Farben und Geräusche. Hier konnte sie umherwandern und den Gedanken ihren freien Lauf lassen, ohne dass jemand anders sie gefangen nahm.
Beim Spielplatz blieb sie stehen. Sie ahnte den Schatten der kleinen Pyret, die hoch bis in den Himmel geschaukelt war, hinauf zu den weichen Wolken, während der Rock ihr ins Gesicht geflattert war, sodass sie die Erde nicht mehr hatte sehen können. Als Auserwählte war sie auf das Königreich zugeflogen, das seine Hände nach ihr ausgestreckt hatte: Komm zu uns! Du bist eine von uns. Du bist die Trägerin des Lichts, du Königstochter und Kind des Feuers. Und sie hatte die Schaukelseile losgelassen und die Hände aus Licht und Luft, Nebel und Feuer ergriffen. Einen Moment unsäglichen Glücks war sie mit den sieben vereint gewesen. Ihr Körper war durchs All geflogen, bis die Erde sie zurückgezogen hatte. Dann war sie hilflos zu Boden gefallen, wo sie allein und erschrocken liegen geblieben war. Die erwachsene Frau hob das Schattenkind vom Boden auf, trug es zum grünen Schuppen, wo sie in Sicherheit waren, hielt es im Arm und tröstete es. Strich ihm übers Haar und summte. Reiste in Gedanken zurück zu den einlullenden Erinnerungen hinter dem Schmerz.
Auf einmal waren Stimmen zu hören. Schrille, unangenehme Stimmen. Pyret verschwand, und die erwachsene Frau spürte, wie die Angst das Kommando übernahm. Sie kauerte sich zusammen und umfing ihren Körper wärmend mit den Armen. Die Geräusche wurden lauter. Ein Hilferuf. Sie hörte, ohne die Worte zu begreifen. Gelähmt, ohne Kraft zum Handeln. Der Schrei einer jungen Frau. Geräusche von Tritten und Schlägen. Die allerschmerzhaftesten Erinnerungen verschmolzen mit der Gegenwart. Mamas geblümter Rock. Das ausdruckslose Gesicht. Die Kraft der Männer, die sich die Dunkelheit übergezogen hatten.
Der Schrei, der sich in die Stille fortsetzte,
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