Schwarze Sekunden: Roman (German Edition)
alles wird notiert. Das betrifft Wagen, Fahrräder und Fußgänger. Wir hoffen auf das eine, Wichtige, das uns weiterhelfen kann.«
»Weiter, zu welchem Ziel?« fragte Anders mit zitternder Stimme. Er sprach jetzt leise, aus Angst, Helga könne ihn hören. »Wenn ein Kind auf diese Weise verschwindet, dann liegt die Annahme ja nahe, daß jemand es mitgenommen hat. Um es zu benutzen. Sie wissen schon, wozu. Und um sich danach des Kindes zu entledigen, damit es nichts verraten kann. Davor habe ich Angst!« flüsterte er. »Und ich sehe keine andere Erklärung.« Er schlug die Hände vors Gesicht. »Wie viele haben angerufen? Hat überhaupt irgendwer angerufen?«
»Leider haben wir nur sehr wenige Beobachtungen«, gab Sejer zu. »Auf der Straße war wenig los, als Ida aufgebrochen ist. Und es handelt sich ja immerhin um eine Strecke von mehreren Kilometern. So was dauert eben immer. Bisher wissen wir, daß Ida vom Hof Solberg aus gesehen worden ist. Eine weitere, nicht ganz so sichere Beobachtung haben wir aus Madseberget.«
Anders sprang plötzlich auf. »Herrgott! Das ist einfach grauenhaft!« Sejer versuchte, diese Panik durch seine eigene Ruhe in den Griff zu bekommen. Anders ließ sich wieder in den Sessel sinken.
»Helga sagt, daß Ida niemals ihren Anweisungen zuwiderhandeln würde«, sagte Sejer nun. »Den Regeln, an die Kinder sich zu halten haben, wenn fremde Männer sie ins Auto locken wollen. Wie sehen Sie das?«
Anders dachte nach. »Ida ist sehr offen«, sagte er. »Neugierig und munter. Und sie erwartet von allen nur Gutes. Wenn ihr also jemand begegnet, der nett zu ihr ist und ihr irgendwelche Versprechungen macht, ja, dann weiß ich nicht so recht.«
Er rutschte unruhig hin und her, als er das sagte. Spielte an seiner Brille herum, konnte die Hände nicht stillhalten.
Sejer dachte eine Weile an die pädophilen Männer, die ihm im Dienst begegnet waren. Sie konnten oft gut mit Kindern umgehen, waren fürsorglich, anziehend und freundlich. Sie hatten die Kunst der Verführung gelernt und verfügten über eine ganz eigene Fähigkeit, leichtgläubige Kinder aufzureißen. Eine eigene Witterung, dachte Sejer.
»Sie könnte also freiwillig mit irgendwem gegangen sein?« fragte er laut.
»Das nehme ich an«, sagte Anders hilflos. »Möglich ist ja alles. Eine solche Frage läßt sich nicht mit ja oder nein beantworten.«
Sejer wußte, daß der andere recht hatte. Skarre ergriff das Wort. »Interessiert sie sich für Jungen?« fragte er vorsichtig.
Anders schüttelte den Kopf. »Sie ist doch erst zehn. Aber vielleicht entwickelt sie jetzt langsam solche Interessen. Auch wenn ich es für sehr früh halte.«
»Wie sieht es mit einem Tagebuch aus? Hat sie so was?«
»Da müssen Sie nachher Helga fragen«, sagte Anders. »Ich möchte sie jetzt nicht wecken.«
»Sie und Helga«, fragte Sejer vorsichtig, »verstehen Sie sich gut?«
Anders nickte. »Ja, auf jeden Fall!«
»Sie hat gestern abend vergeblich versucht, Sie anzurufen. Wo haben Sie den Abend verbracht?«
Anders kniff erschrocken die Augen zusammen. »In der Firma. Und ich schalte das Telefon dann oft aus, um in Ruhe arbeiten zu können.«
»Sie arbeiten im Schichtdienst?« fragte Sejer.
»Nein. Aber ich habe ja keine Familie mehr. Ich meine, nicht so wie früher. Ich fülle die Zeit mit Arbeit. Sitze viel im Büro. Übernachte da auch manchmal.«
»Was sind Sie denn von Beruf?«
»Ich bin in der Werbebranche. Arbeite an Text und Layout. Die Firma heißt Heartbreak«, fügte er hinzu. »Falls Sie sich so was notieren.«
Skarre schrieb Telefonnummer und Adresse der Firma auf. Anders Joner erzählte von seiner Arbeit. Er schien vor seinen Problemen zu fliehen und sich in seinen Beruf zu retten, und jetzt lebte er wirklich auf. Sein Gesicht wirkte jungenhaft. Er strahlte den plötzlichen Charme der Menschen aus, die ihre Arbeit lieben und sich darüber verbreiten dürfen.
»Helga ist Frührentnerin«, sagte er dann. »Wegen ihrer Migräne. Deshalb unterstütze ich sie finanziell, sie und Ida.« Sein Gesicht verdüsterte sich wieder, weil er nicht wußte, was er sonst noch sagen sollte, und weil seine Tochter jetzt wieder in sein Bewußtsein gerückt war.
»Ida ist sehr aufgeschlossen«, sagte er plötzlich.
»Aufgeschlossen?« fragte Sejer. »In welcher Hinsicht?«
»Kommunikativ. Eifrig. Sie läßt sich nicht so leicht entmutigen. Sie besitzt viel Selbstvertrauen«, setzte Anders hinzu. »Und sie hat eine hohe Meinung von sich selbst.
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