Schwarze Sekunden: Roman (German Edition)
Obwohl Skarre sie an zahllose Suchaktionen erinnerte, bei denen die vermißte Person immer wieder übersehen worden war, von vielen Menschen. Auch Anders Joner war dabei. Da er seit acht Jahren nicht mehr in Glassverket wohnte, kannten ihn nur wenige, was für ihn eine Erleichterung war. Seine Brüder, Tore und Kristian, waren ebenfalls dabei, wie auch Helgas Neffe Tomme. Alle atmeten auf, als endlich das Startsignal gegeben wurde. Einhundertfünfzig Menschen lösten sich in kleine Gruppen auf und verließen den Schulhof. Leise Stimmen waren zu hören. Für viele war es an sich schon eine seltsame Erfahrung. Die ganze Zeit auf den Boden zu starren, alle Grashalme, alle Wurzeln und Zweige zu sehen, alle Unregelmäßigkeiten im Asphalt, den vielen Abfall in den Straßengräben, es gab so viel zu beachten. Die Gruppe, die am Flußufer suchen sollte, schaute immer wieder zu der lebhaften Strömung hinüber. Senken wurden untersucht. Und sie fanden ja auch allerlei. Einen ramponierten alten Kinderwagen. Einen morschen Gummistiefel. Am Flußufer überwogen die leeren Bierflaschen. Ab und zu legten sie kurze Pausen ein. Eine Gruppe fand eine kleine Scheune. Sie war in sich zusammengesackt und hatte bedrohlich Schlagseite. Ein schönes Versteck, dachten alle und blieben vor dem bescheidenen Bauwerk stehen. Es war auch nicht weit von der Straße entfernt, nicht weit von Idas Haus. Unwillkürlich schnupperten sie in der Luft herum. Ein Mann ging in die Hocke und kroch durch die Öffnung, die aus einem schmalen Spalt in der verfallenen Bretterwand bestand. Er bat um eine Taschenlampe und bekam sie. Der Strahl flackerte durch das halbdunkle Scheuneninnere. Das Herz des Mannes schlug so wütend, daß er es in den Schläfen spürte. Die restliche Gruppe wartete. Für einige lange Sekunden war aus der Scheune nichts zu hören, dann kamen die Füße des Mannes wieder zum Vorschein, er kroch rückwärts durch die enge Öffnung.
»Nur jede Menge Müll«, berichtete er.
»Du hast die Sachen doch hochgehoben?« fragte ein anderer. »Sie kann doch unter etwas liegen. Unter Brettern oder so.«
»Sie war nicht da«, sagte der Mann und fuhr sich müde über das Gesicht.
»Sie haben doch gesagt, daß man so leicht etwas übersieht. Wollen wir nicht sicherheitshalber noch einmal nachschauen?« Der andere ließ nicht locker.
Der Mann, der in dem stinkenden Halbdunkel nach einem Mädchenleichnam gesucht und ihn nicht gefunden hatte, musterte sein Gegenüber resigniert.
»Meint ihr, ich habe geschlampt?« fragte er.
»Nein, nein. Versteh das nicht falsch. Ich meine doch nur sicherheitshalber. Wir wollen doch keine Gruppe sein, die etwas übersieht, sondern gute Arbeit leisten. Nicht wahr?«
Er nickte und war auch dieser Meinung. Der andere kroch durch die Öffnung und leuchtete mit der Taschenlampe alles aus. Er hoffte so sehr. Himmel, was ist das für eine Hoffnung, dachte er plötzlich, als er auf dem feuchten Boden lag und den kalten Luftzug durch die Hosenbeine spürte. Zu hoffen, daß sie hier liegt. Denn wenn sie hier liegt, ist sie auch tot. Wir hoffen doch nicht, daß sie tot ist. Wir sind nur realistisch. Wir helfen. Er kroch wieder hinaus.
»Leer«, sagte er. »Zum Glück.«
Er stieß die Luft aus. Die Gruppe wanderte weiter.
*
W ILLY O TERHALS HATTE sich nicht an der Suche beteiligt. Er saß in seiner Garage auf dem Boden und hielt eine Dose auf den Knien. Die Kälte des Zements drang durch seinen Hosenboden. Tomme saß an der Wand auf einem Arbeitstisch und sah Willy an. Seine Kleidung war nach mehreren Stunden im Nieselregen feucht. Die Suchaktion hatte keinerlei Resultat erbracht. Jetzt musterte er seinen Opel. Vom Tisch her konnte er den zerkratzten Kotflügel nicht sehen. Er konnte sich einbilden, daß es nie passiert, daß es nur ein schrecklicher Traum gewesen war.
»Wie war’s?« fragte Willy, ohne ihn anzusehen.
Tomme dachte lange nach.
»Widerlich«, sagte er. »Einfach nur Suchen. Jede Menge fremde Menschen. Sie suchen überall. In Brunnen und Bächen.«
»Werden sie morgen weitermachen?« fragte Willy.
»Angeblich soll das tagelang so weitergehen.«
Er schaute schräg zu dem älteren Kumpel hinüber. Willy ist ziemlich knochig, dachte er. Er hatte ein mageres Gesicht mit hervorspringendem Kinn und eckige Schultern. Seine Knie unter dem Nylonoverall waren spitz. Jetzt rieb er sich mit seinem Finger Dreck von der Wange, und er versuchte, Text und Bilder in einem Buch über die Reparatur und das Lackieren
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