Schwarze Sekunden: Roman (German Edition)
tun.
»Na gut«, sagte sie. »Dann hast du eben dein Auto eingebeult. Papa und ich können die Reparatur nicht bezahlen, also mußt du mit der Beule fahren oder sparen, bis du die Rechnung selbst übernehmen kannst.«
Sie rang fast um Atem. Der Sohn wurde unsicher, drehte sich aber nicht um.
»Ich weiß«, sagte er mürrisch.
Auf dem Computerbildschirm tauchte ein Labyrinth auf. Darin bewegte sich eine Katze. Der Sohn ließ sie nicht aus den Augen und drehte lauter. In der Mitte des Labyrinths lief eine Maus hin und her.
»Es ist einfach so scheußlich«, rief er plötzlich.
»Ich kann darüber jetzt nicht sprechen«, erwiderte Ruth. »Etwas Schreckliches ist passiert. Ida ist verschwunden!«
Der Sohn zuckte überrascht zusammen. Er starrte noch immer auf den Bildschirm. Aus den Lautsprechern waren Geräusche zu hören.
»Verschwunden?« fragte er verblüfft und drehte sich langsam um.
»Deine Kusine Ida«, sagte Ruth. »Sie ist um sechs zum Kiosk gefahren. Ich war den ganzen Abend bei Helga. Sie haben weder Ida noch ihr Fahrrad gefunden.«
»Sie?«
»Die Polizei.«
»Wo haben sie sie denn gesucht?« fragte er und sah sie aus großen Augen an.
»Wo sie sie gesucht haben? Überall natürlich. Sie ist gar nicht am Kiosk gewesen.«
Ruth mußte sich an die Wand lehnen. Wieder ging ihr der Ernst der Lage auf. Ihr Sohn machte sich noch immer an der Tastatur zu schaffen und bugsierte die jagende Katze in eine Sackgasse. Die Maus blieb untätig liegen und wartete auf den nächsten Zug.
»Deine Beule ist also nicht der Rede wert«, sagte Ruth. »Das ist nur eine Beule in einem alten Auto, die repariert werden kann. Ich hoffe, du siehst ein, wie unwichtig das ist.«
Er nickte langsam. Sie hörte seinen Atem, der angespannt klang.
»Wie ist es eigentlich passiert?« fragte sie mit plötzlichem Mitleid. »Hast du dir dabei wehgetan?«
Er schüttelte den Kopf. Er tat Ruth leid. Die Sache mit dem Auto war eine Niederlage. Er war jung und glaubte, alles im Griff zu haben, und das hier bedeutete eine arge Bedrohung für seinen Stolz. Sie konnte ihn verstehen, wollte ihn aber nicht mehr umhegen als sonst. Sie wollte, daß er erwachsen wurde.
»Ich bin gegen eine Leitplanke geknallt«, sagte er resigniert.
»Ach«, sagte sie. »Und wo?«
»An der Brücke. Im Ort.«
»War denn Bjørn bei dir?« fragte sie.
»Nein. Da nicht.«
»Soll ich es mir mal ansehen?« fragte sie.
»Das ist nicht nötig«, sagte er müde. »Ich habe mit Willy gesprochen. Er kann mir bei der Reparatur helfen. Ich habe zwar kein Geld, aber er sagt, das hat Zeit.«
»Willy?« fragte Ruth überrascht. »Triffst du dich noch immer mit dem? Du wolltest doch zu Bjørn.«
»Ja, ja«, sagte Tomme. »Aber Willy kennt sich mit Autos aus. Deshalb bin ich zu ihm gefahren. Willy hat eine Garage und Werkzeug. Bjørn hat beides nicht.«
Er setzte die Katze wieder in Bewegung. Warum sieht er mich nicht an? überlegte Ruth. Ihr kam ein schrecklicher Gedanke.
»Tomme«, sagte sie atemlos. »Du hattest doch wohl nicht getrunken?«
Er fuhr auf seinem Stuhl herum und starrte sie wütend an.
»Spinnst du? Ich fahr ja wohl nicht im Suff! Meinst du, ich fahre im Suff?« Er war so ehrlich empört, daß sie sich schämte. Kreideweiß war er im Gesicht. Seine halblangen Haare waren ungekämmt, und Ruth fiel mit einem Mal auf, daß sie gewaschen werden mußten.
Sie drückte sich noch ein wenig in der Tür herum. Kam nicht zur Ruhe, war nicht müde, horchte die ganze Zeit auf das Telefon, ob es vielleicht klingelte. Spürte die Angst, die sie überkommen würde, wenn es klingelte. Dachte an diese Sekunde, in der sie den Hörer abnahm und wartete. In der sie an der Kante des Abgrundes stand. Sie würde entweder hinunterstürzen oder durch einen glücklichen Ausgang in Sicherheit gezogen werden. Denn die Sache mußte ein glückliches Ende nehmen, die andere Version war unvorstellbar, hier, an diesem friedlichen Ort, mit Ida.
»Ich muß morgen früh zu Helga«, sagte sie. »Du mußt Marion mit dem Frühstück helfen und so. Und du mußt sie zum Schulbus bringen. Nicht nur hinbringen«, fügte sie hinzu. »Du mußt warten, bis sie eingestiegen ist. Hörst du? Ich muß bei Helga sein, falls etwas passiert. Onkel Anders ist jetzt bei ihr«, sagte sie leise.
Sie seufzte verzweifelt und bat den Sohn, jetzt schlafen zu gehen. Verließ ihn und ging aus dem Haus. Es geschah aus einem Impuls heraus. Sie öffnete die Tür der Doppelgarage. Erstaunt sah sie, daß ihr Sohn
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