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Schwarze Sekunden: Roman (German Edition)

Schwarze Sekunden: Roman (German Edition)

Titel: Schwarze Sekunden: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Fossum
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fragte er und sah Jacob Skarre an.
    »Ein Lastwagenfahrer. Er ist zuerst vorbeigefahren. Dann hat er zurückgesetzt. Er sagt selbst, er habe keine Ahnung, warum, aber jedenfalls hat er zurückgesetzt.«
    Er zeigte auf die Straße. »Das ist der dahinten, mit der Zigarette.«
    Sejer blieb neben dem Bündel stehen. Die anderen machten ihm Platz. Er dachte: Darauf haben wir gewartet. Jetzt ist es soweit. Er kniete im Gras nieder. Die geblümte Decke war an dem einen Ende behutsam auseinandergeschlagen worden. In der Öffnung war Idas Gesicht zu sehen. Ihre Augen waren geschlossen. Ihre Wangen waren sehr blaß. Auf den ersten Blick waren keine Verletzungen oder Wunden zu erkennen. Keine roten Flecken, keine Dellen im Schädel, nirgendwo Blut, keine Spuren von Schmerz. Aber etwas stimmte nicht. Er fühlte sich zutiefst verwirrt. Dieses Kind ist noch keine zehn Tage tot, dachte er. Höchstens einen oder zwei. Ein Techniker holte ein Tapeziermesser aus seinem Koffer und zerschnitt das braune Klebeband, mit dem die Decke umwickelt war. Dann öffnete er sie. Sejer schüttelte verwundert den Kopf. Die Kleidung, dachte er und schaute sich um, wo sind ihre Sachen? Der Trainingsanzug und die Schuhe? Hier lag Ida auf der geblümten Decke, und sie trug ein weißes Nachthemd. Sie war barfuß. Er richtete sich auf. Hatte ein seltsames Gefühl. So etwas habe ich noch nie gesehen, dachte er. In meinem ganzen Leben noch nicht. Er schaute sich um. Es war eine einsame Gegend. Kein Haus, so weit das Auge reichte. Die Person, die Ida hergebracht hatte, hatte das im Schutze der Dunkelheit getan. Sie war hingelegt worden, nicht geworfen, ging ihm auf, sie lag flach auf dem Rücken. Der Anblick des kleinen Mädchens im Nachthemd drohte ihn zu überwältigen. Das Ganze hatte etwas Märchenhaftes. Er dachte an Helga Joner und freute sich darüber, daß sie ihre tote Tochter würde sehen können. Ida war fast so schön wie früher. Über ihren Körper und das, was der vielleicht versteckte, wußten sie nichts. Er kniete wieder nieder. Sie hatte einen sehr kleinen Mund. Der war jetzt farblos, aber auf ihren Fotos war er kirschrot. Die Augenlider runzelten sich über den eingesunkenen Augäpfeln. Sie hatte keine Flecken im Gesicht, ihre Hände jedoch fingen an, kleine rote Punkte zu zeigen. Die Haare, die auf den Bildern voll und lockig waren, lagen schlaff und leblos da. Aber sonst … fast wie eine Puppe, marmorähnlich und zart.
    »Die Leiche war gefroren«, sagte Gerichtsmediziner Snorrason. Er erhob sich, um den Rücken zu strecken. »Sie ist nur teilweise aufgetaut.«
    Sejer musterte ihn überrascht.
    »Mit anderen Worten, sie kann durchaus seit zehn Tagen tot sein. Aber so sieht sie nicht aus.«
    »Wieso gefroren?« fragte Sejer und starrte Jacob Skarre an. Der hatte doch vermutet, daß der Täter vielleicht nichts überstürzte, sondern Ida irgendwo in seinem Haus versteckte.
    »Er wollte vielleicht Zeit gewinnen. War verwirrt. Ich weiß es nicht«, sagte Snorrason.
    »Zeit gewinnen? Wozu? Er hat nicht versucht, sie zu verstecken. Sie liegt doch offen am Straßenrand. Wir sollten sie also finden.«
    Sejers Blick fiel auf etwas unten im Gras, und er hob es auf. Es war winzigklein und schneeweiß.
    »Eine Feder?« fragte er und schaute Skarre an. »Von der Bettdecke?«
    Skarre runzelte die Stirn. Rieb einen Deckenzipfel zwischen seinen Fingern. »Vielleicht«, sagte er skeptisch. »Aber das hier ist keine Daunendecke, glaube ich. Es ist eine billige, synthetische Decke von Ikea, die Sorte, die man in der Maschine waschen und in der Trommel trocknen kann.«
    Er hatte die Waschanweisung entdeckt und zeigte darauf.
    Sejer durchsuchte jetzt das Gras. Er fand weitere winzige Daunen. Sie steckten vor allem in der Decke, aber einige klebten auch am Nachthemd. Wenn er danach griff, stoben sie wie Löwenzahnsamen in der Luft davon. Er rief den Fotografen.
    »Mach Bilder von diesem Nachthemd«, sagte er. »Sorg dafür, daß der Halsausschnitt mit dem roten Bändchen und die Spitzen am Ärmel darauf zu sehen sind. Nimm die Decke auf. Das Muster muß so deutlich hervortreten wie nur möglich. Und sieh dich nach weiteren Federn um.« Er streckte die Hand aus. »Sei vorsichtig mit der Decke. Die darf nicht geschüttelt oder auf irgendeine Art bewegt werden. Alles, was wir daran noch finden, kann entscheidend sein.«
    Dann zog er Skarre beiseite und ging einige Meter durch das feuchte Gras. Die ganze Zeit sah er aus dem Augenwinkel die weiße Decke. Er

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