Schwarze Sekunden: Roman (German Edition)
ließ seine Augen einen weiten Bogen beschreiben und registrierte jeden Hügel und jeden Baumwipfel. Aus der großen Menschengruppe, die am Tatort an der Arbeit war, drang ein leises, ernstes Gemurmel zu ihm herüber.
In diesem Moment tauchten die ersten Autos auf. Die Presse wollte ihr Teil.
»Wann ist es abends ganz dunkel, jetzt im September?« fragte Sejer. »So gegen zehn?«
»Ungefähr«, antwortete Skarre. »Es wird gegen sieben hell. Zwischen zehn Uhr gestern abend und sieben Uhr heute morgen ist ein Wagen über diese Straße gefahren. Es hat nur einige Sekunden gedauert, sie aus dem Wagen auf die Wiese zu legen.«
»Alles ist so adrett und ordentlich«, sagte Sejer. »Das Nachthemd. Die Decke. Die Art, wie sie daliegt. Was will er uns damit sagen?«
»Keine Ahnung«, meinte Skarre.
»Vielleicht hat er zu viele Kriminalromane gelesen«, sagte Sejer.
»Es fehlt nur noch, daß wir unter ihrem Nachthemd ein Gedicht finden.«
»Können wir ausschließen, daß es sich um einen Jungen handelt?« murmelte Skarre.
»Möchte ich meinen. Das hier wirkt erwachsen. Ein pubertärer Knabe hätte das nicht so arrangiert.«
»Das Ganze hat etwas Feminines an sich.«
»Stimmt«, sagte Sejer. »Ich hasse Ikea«, fügte er hinzu. »Die stellen alles in so verdammt großen Mengen her.«
»Wir müssen uns auf das Nachthemd konzentrieren. Das sieht edel aus.«
»Hast du Ahnung von so was?« fragte Sejer beeindruckt.
»Es ist altmodisch«, erklärte Skarre. »Die Mädchen von heute tragen Nachthemden mit Pu dem Bären oder so. Das hier scheint aus einer anderen Zeit zu stammen.«
»Aber wer kauft Nachthemden aus einer anderen Zeit?« Sejer dachte laut nach.
»Menschen aus einer anderen Zeit vielleicht. Alte Leute«, sagte Skarre.
»Alte?«
Sejer runzelte die Stirn. Sie schauten wieder zu dem Bündel hinüber.
»Ich hoffe, er hat geschlampt«, sagte Sejer. »Niemand kann an alles denken.«
»Das sieht nicht gerade schlampig aus«, wandte Sejer ein.
»Richtig«, sagte Sejer. »Mal hören, was das Labor erzählt.«
Er ging zu Snorrason zurück. Der Gerichtsmediziner arbeitete langsam und methodisch. Seine Miene war unergründlich.
»Was sagst du zu diesen Federn?« fragte Sejer.
»Die sind seltsam«, meinte der Arzt. »Die kleben an der Unterlage und fliegen trotzdem so weit weg, wenn sie sich lösen können. In ihren Haaren sitzen auch welche.«
»Hast du sonst schon was rausgefunden?«
Bardy Snorrason hob vorsichtig Idas Nachthemd hoch. »Spekulationen liegen mir nicht«, sagte er. »Und das weißt du.«
Sejer schaute ihn eindringlich an. Snorrason rollte das weiße Nachthemd an Idas Körper hoch. Man konnte sehen, daß er das schon häufiger gemacht hatte. Er besaß eine eigene Technik, einen ganz besonders behutsamen Griff. Sejer sah, wie die dünnen Oberschenkel zum Vorschein kamen. Er sah den nackten Bauch. Sie trug keine Unterhose. Eine plötzliche Nervosität überkam ihn, als der restliche Körper entblößt wurde. Und dann sah er es. Ihre Brust. Die war auf seltsame Weise eingesunken und leicht verfärbt. Snorrason tippte die beiden untersten Rippen an. Als er zudrückte, gab das ganze Knochengerüst nach.
»Sie ist geschlagen worden«, sagte er. »Oder getreten. Das sieht aus wie ein heftiger Stoß.«
Sejer musterte Idas Brustkasten. Schmächtig wie ein Vogelnest. Ihm fehlten die Worte.
»Mehrere Rippen sind gebrochen. Ich darf das ja eigentlich nicht laut sagen, aber ich wünschte, die Haut sei geplatzt oder wund«, gab Snorrason zu. »Dann wäre es leichter, die Ursache der Verletzungen zu bestimmen.«
Sejer mußte aufstehen und den Eindruck erst einmal sacken lassen. Diese zerschundene Brust war zuviel für ihn.
»Was immer sie getroffen hat, hat sie mit heftiger Wucht getroffen«, sagte Snorrason. »Es war groß und schwer. Und hatte keine scharfen Kanten.«
Sejer sah wieder Ida an. Seine Augen wanderten über den verfärbten Bereich, und er versuchte sich vorzustellen, was diese Senke verursacht haben konnte.
»Ein großer Stein?« schlug er vor.
Snorrason gab keine Antwort.
»Ein Stock? Ein Stiefel?«
»Kein Stock«, meinte der Arzt. »Etwas Größeres. Und auch kein Stiefel. Dann hätte der Absatz einen Abdruck hinterlassen. Raten hilft hier nicht weiter, Konrad. Ich muß erst aufmachen.«
Sejer schwieg. Snorrason sah ihn an. »Woran denkst du?« fragte der Gerichtsmediziner.
»Ich denke an Helga Joner«, sagte Sejer. »Daran, was ich sagen soll. Sie wird viele Fragen
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