Schwarze Sekunden: Roman (German Edition)
haben.«
»Sag ihr die Wahrheit«, empfahl Snorrason. »Wir wissen nicht, was passiert ist.«
»Es wäre mir lieber, sie bekäme diesen Brustkasten nicht zu sehen«, sagte Sejer gequält.
»Aber wenn sie das will, kannst du sie nicht daran hindern«, sagte Snorrason »Und vergiß nicht, es kommt ja nicht überraschend. Ich will nicht zynisch sein, aber es könnte schlimmer sein. Es könnte noch sehr viel schlimmer sein.«
Sejer wußte, daß der Arzt recht hatte. Er begnügte sich mit einem Nicken als Antwort. Er wußte nicht, was Helga sich ausgemalt haben mochte, aber vielleicht etwas Schlimmeres als das, was jetzt zu seinen Füßen lag. Ida sah aus wie eine schlafende Puppe. Und das Nachthemd, das nicht ihr gehörte, war in seiner ganzen Schlichtheit von rührender Schönheit. Was war passiert? Wo war sie gewesen? Er würde zu Helga fahren müssen. Vielleicht saß sie im Sessel vor dem Fenster. Vielleicht wanderten ihre Augen zum Telefon. Er dachte an Helgas schreckliche Angst. Er dachte, es kommt nicht überraschend. Aber noch schwebt sie in Ungewißheit. Noch einige wenige Minuten, dachte er, in quälender Ungewißheit.
Die Fundstelle wurde sorgfältig gesichert. Sie waren viele Stunden mit Ida und der Umgebung beschäftigt. Später trafen Sejer und Skarre sich im Büro. Endlich hatten sie etwas. Physische Spuren, die untersucht werden und ihnen helfen konnten. Das war trotz allem eine Erleichterung. Sie hatten darauf gewartet, jetzt konnten sie es hinter sich bringen und weitermachen.
»Das ist ein Nachthemd der Marke Calida«, sagte Skarre. »Schweizer Fabrikat. Es werden große Mengen Nacht- und Unterwäsche von dort nach Norwegen importiert und in sehr vielen Läden verkauft.«
Sejer nickte. »Schnelle Arbeit«, sagte er anerkennend. »Hast du in Hamburg was ausrichten können?«
»Ein bißchen.« Skarre lehnte sich an den Tisch. »Christines Mutter heißt Rita Seidler. Sie hat Idas letzten Brief rübergefaxt. Ich habe ihn übersetzt. Und ein wenig bearbeitet, um den Zusammenhang besser herauszuholen. Sie schreiben wirklich gutes Englisch, diese Mädels. Ich wußte nicht, daß sie das so früh schon lernen«, meinte er.
»Lies vor«, bat Sejer.
»Liebe Christine«, las Skarre. »Danke für deinen Brief. Heute ist Montag, da sehe ich immer die Fernsehserie ›Pet Rescue‹. Da geht es um Leute, die Tiere retten. Heute ging es um einen fetten Hund. Er konnte fast nicht mehr laufen.«
Sejer dachte an Kollberg, der ebenfalls fast nicht mehr laufen konnte. Er lauschte atemlos, denn Skarre las mit Betonung, und außerdem fand er den Text ganz reizend.
»Die Leute von Pet Rescue wollten den Hund abholen, und der Besitzer war stocksauer. Er sagte, er könne ihn füttern, soviel er wolle, denn das sei sein Hund. Also sagten sie, der Hund könne an einem Herzinfarkt sterben, wenn er nicht dünner würde. Sie haben ihm drei Wochen gegeben. Aber als sie dann wieder nachschauten, war der Hund schon tot.«
Skarre legte eine Pause ein. Dann las er weiter:
»Ich kenne einen Papagei, der sprechen kann. Ich versuche, ihm neue Wörter beizubringen, aber das geht sehr langsam. Meine Mutter weiß nichts davon. Der Papagei heißt Heinrich. Er ist sehr böse und sauer, aber er beißt mich nicht. Ich werde meine Mutter fragen, ob ich nicht auch einen Vogel haben darf. Ich werde viele Jahre lang quengeln. Bis sie dann doch ja sagt. Erzähl mehr von deinem Kaninchen.«
Skarre schaute zu Sejer hoch und widmete sich dann wieder dem Brief. Am Ende gab es noch ein kurzes PS.
»Bald werde ich zehn. Am 10. September. Gruß, Ida.«
Er faltete den Brief zusammen.
»Sie hat heute Geburtstag«, sagte er ernst. »Heute, am 10. September.«
»Das weiß ich«, sagte Sejer.
Skarre legte den Brief auf den Schreibtisch.
»Und Helga?« fragte er leise. »Wie war es bei ihr? Was hat sie gesagt?«
»Nichts«, erwiderte Sejer. »Sie wurde ohnmächtig.«
*
E LSA M ARIE KLOPFTE nicht an. Sie öffnete die Tür mit ihrem eigenen Schlüssel und lief mit energischen Schritten in die Küche. Emil hatte die Tür nach besten Kräften repariert. Er stand am Küchentisch und machte sich mit einem Wischlappen zu schaffen. Die Krümel wollten nicht am Lappen haften, und er schob sie einfach auf der Tischplatte hin und her. Am Ende fegte er sie mit bloßen Fäusten weg.
»Fahr doch mal eine Runde«, schlug seine Mutter vor. »Das hier dauert seine Zeit.«
Er widersprach nicht, und das hatte sie auch nicht erwartet. Emil hörte das leise
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