Schwarze Sekunden: Roman (German Edition)
Ich frage mich, wie lange ich noch solche Sachen finden werde. Und mich an alles mögliche erinnere.«
»Haben Sie die Hoffnung verloren?« fragte er.
Sie überlegte.
»Ich weiß nicht. Haben Sie noch Hoffnung?«
»Ich habe absolut die Hoffnung, sie zu finden«, sagte er. »Aber ich fürchte, daß es zu spät sein wird.«
Helga sank im Sessel in sich zusammen. Sejers Aufmerksamkeit wurde von etwas abgelenkt. Von einem weißen Briefumschlag, der auf dem Tisch lag. Er konnte die Adresse lesen. Der Brief war an Ida gerichtet. Helga folgte seinem Blick.
»Ich würde ihn eigentlich gern öffnen«, sagte sie. »Aber das darf ich doch nicht. Ich lese Idas Briefe nicht. Sie soll ihn selbst lesen, finde ich. Der Brief kommt von Christine. Sie ist in Idas Alter und lebt in Hamburg. Sie korrespondieren seit fast einem Jahr. Ich finde das sehr gut, Idas Englisch ist dadurch viel besser geworden.«
»Warum möchten Sie den Brief lesen?« fragte Sejer.
»Ich muß ihr doch Bescheid geben«, sagte Helga gequält. »Es ihr erklären. Ich weiß nicht, ob ich das über mich bringe. Und ich kann nicht auf Englisch schreiben.«
»Ich finde, Sie sollten ihn lesen«, sagte er. Er wußte nicht, warum er das gesagt hatte. Aber der Brief kam ihm verlockend vor. Wie ein kleines, schneeweißes Geheimnis dort auf dem Tisch. Zögernd griff sie nach dem Umschlag. Schob einen Nagel unter den Kleberand. Riß ihn mit dem Zeigefinger auf. Sejer ging ans Fenster. Blieb dort stehen und starrte auf Helgas Garten hinaus. Er wollte nicht stören. Abgesehen vom Knistern des Papiers war kein Geräusch zu hören. Er drehte sich erst um, als sie leise und erstaunt nach Luft schnappte. Sie hielt den Brief in der Hand. Jetzt blickte sie ihn mit trauriger Miene an.
»Ich kann nicht sehr viel Englisch«, sagte sie. »Aber ich glaube, es geht um einen Vogel. Darum, daß Ida einen Vogel kennt, der sprechen kann. Und das verstehe ich nicht.«
Sejer trat neben ihren Sessel. Er schaute auf den Briefbogen hinunter.
»Mir gegenüber hat sie das nie erwähnt«, sagte Helga. »Wenn sonst jemand ein Tier hat, redet sie von morgens bis abends darüber.«
Sie zeigte auf den Brief.
»Tell me more about the bird. What can he say?«
Sejer las diesen Satz wieder und wieder.
»Richard, ein Nachbarsjunge, hat ein Pferd namens Cannonball«, sagte Helga. »Ida redet dauernd darüber, und sie redet auch viel über Marions Katze. Aber von einem Vogel habe ich nie etwas gehört. Wir kennen niemanden mit einem Vogel«, behauptete sie. »Weder mit einem Wellensittich noch mit irgendeiner anderen Sorte.«
Sie zerknüllte den Brief in der Hand. Ihr Gesicht sah jetzt besorgt aus.
»Helga«, fragte Sejer vorsichtig. »Gibt es noch andere Briefe von Christine?«
Langsam erhob sie sich und verschwand im ersten Stock. Kurz darauf kehrte sie mit einem Holzkästchen zurück. Es war blau, und der Deckel wies ein von Ida selbst aufgemaltes, ein wenig ungeschickt angebrachtes Muster auf. Jetzt hielt sie ihm das Kästchen hin. Sejer nahm es aufmerksam entgegen. Öffnete den Deckel und schaute hinein. Das Kästchen enthielt einen dicken Stapel von Briefen.
»Ich werde sie alle durchgehen«, sagte er. »Vielleicht finden wir ja etwas, das uns weiterhelfen kann. Und wenn Sie wollen, können wir Christine in Hamburg anrufen und ihr alles erklären.«
Es war Nacht, als er sich ins Auto setzte. Das Holzkästchen stand neben ihm auf dem Sitz. Sejer schaute auf die Armbanduhr. Skarre war wohl schon ins Bett gegangen, überlegte er. Trotzdem gab er dessen Nummer in sein Mobiltelefon ein. Skarre meldete sich beim zweiten Klingelzeichen.
Sejer fuhr ins Zentrum und parkte. Betrat den Torweg zu Skarres Haus und suchte auf der Klingelleiste den Namen. Bald darauf war das vertraute Brummen zu hören. Er lief die Treppen hoch.
»Du hast nur zweiundsiebzig Stufen«, sagte er herablassend; er war nicht einmal außer Atem nach diesem Lauf. »Ich habe zweihundertachtundachtzig.«
»Das weiß ich doch«, sagte Skarre. Er hielt die Tür auf. Sein Blick fiel auf das Kästchen.
»Briefe«, erklärte Sejer. »Von Christine Seidler aus Hamburg an Ida Joner in Norwegen. Sie korrespondieren seit zwölf Monaten miteinander.« Er folgte Skarre ins Wohnzimmer.
»Und gibt es dort etwas zu holen? Willst du das andeuten?« fragte Skarre neugierig.
»Fürs erste ist dort ein Vogel zu holen«, sagte Sejer lächelnd. »Der sprechen kann. Wir wissen doch, wie sehr Ida Tiere liebt. Aber Helga hat von diesem
Weitere Kostenlose Bücher