Schwarze Sekunden: Roman (German Edition)
Zittern in der Stimme seiner Mutter, und es machte ihn nervös. Er ging rückwärts aus der Küche und griff nach seiner alten Jacke, die an einem Haken im Gang hing. Er zog sich die Ledermütze über den Kopf. Die Mutter schaute ihm hinterher. Sie betrachtete die alberne Ledermütze. Ihr Körper war bis zum äußersten angespannt, jede einzelne Bewegung war eine Qual. Sie sagte sich, daß vor ihr eine wichtige Aufgabe lag. Sie wollte zu einer Reinigungsmaschine werden. Wollte sich durch seine Zimmer arbeiten und den scharfen Geruch von Reinigungs- und Desinfektionsmitteln hinterlassen. Diesmal mußte sie sich das ganze Haus vornehmen. Vorhänge runter, Bettwäsche raus. Sie biß wütend die Zähne zusammen. Emil trottete auf den Hofplatz hinaus und stieg auf sein Moped. Das wollte nicht anspringen. Er grunzte gereizt und entdeckte im Fenster das Gesicht der Mutter. Er versuchte, wütend zu werden, aber das gelang ihm nicht. Für Emil gehörte sehr viel dazu, ehe er wütend wurde. Endlich fing der Motor an zu husten. Emil gab Gas, etwas mehr als unbedingt nötig, und das weiße Gesicht der Mutter verschwand. Er sah, wie der Vorhang an seinen Platz zurückfiel. Emil fuhr wie immer vierzig Stundenkilometer. Er hatte kein Ziel, kannte niemanden, den er würde besuchen können. Und Geld in der Tasche hatte er auch nicht. Aber der Benzintank war halbvoll. Mit einem halben Tank konnte er weit kommen, bis in die Stadt und zurück und vielleicht auch noch hoch nach Solberg. Den Wasserfall mochte er. Er würde zum Wasserfall fahren. Auf dem Rad am Ufer sitzen und die Gischt im Gesicht spüren. Das machte er oft. Es war nicht kalt, und seine Jacke war solide. Bis oben zugeknöpft. Er trug braune Handschuhe an den Händen und dicke Stiefel an den Füßen.
Nach fünf Minuten passierte er »Jesu Christi Kirche der Heiligen der Letzten Tage«. Er konnte einige kurze Wörter lesen, begriff aber nicht immer deren Bedeutung. Emil war müde. Die Mutter schrie jetzt seit Tagen. Sprich mit mir, Mensch, quengelte sie. Ich begreife dich nicht. Und er wollte ja. Er spürte, daß die Wörter irgendwo in seinem Hinterkopf bereitlagen. Er könnte sie ordnen und in Reihen aufstellen, die Sätze genannt wurden. Aber er wagte nicht, sie loszulassen. Er hatte Angst, sie könnten falsch herauskommen und alles noch schlimmer machen. So übel wie jetzt war er noch nie dran gewesen. Links lag die Trabrennbahn. Immer wieder wurde er überholt. Daran war er gewöhnt, kannte sich aus mit wütenden Autofahrern, die ihm von hinten auf den Leib rückten. Emil war schneller als ein Radfahrer, aber langsamer als ein Motorrad, und er brauchte mehr Platz. Alle hatten es eilig. Emil ging es nie so. Er fragte sich, was diese vielen Leute denn bloß erreichen wollten. Einmal war vor seinen Augen ein Autounfall passiert. Es hatte einen ohrenbetäubenden Knall gegeben, das schrille Geräusch von nachgebendem Metall und von Glas, das zersprang und über den Asphalt regnete. Er konnte sich an die Stille danach erinnern, und an den Benzingeruch. Durch ein Autofenster sah er einen Kopf auf einem Lenkrad und Blut, das als stetiger Strom über ein graues Hosenknie lief. Er war ganz schnell weggefahren, als er die Sirenen gehört hatte. Jetzt sah er ein Stück vor sich die Abzweigung nach Solberg. Er blinkte beizeiten nach rechts und nahm die Kurve mit Präzision. Weiter oben mußte er wieder nach rechts abbiegen, und bald sah er den Wasserfall. Er schaltete in den zweiten Gang hinunter und fuhr an den Uferrand. Stieg vom Rad und trat ans Geländer. Beugte sich hinüber. Das tiefe Dröhnen der Wassermassen gefiel ihm, er stand gern über den Rand gebeugt da. Nein, sagte er in die Luft hinein. Er spürte das Vibrieren in der Brust. Er versuchte, mit dem Mund ein O zu formen. Durch das Dröhnen des Wasserfalls war etwas zu hören, das einem Eulenschrei ähnelte. Er senkte den Kopf und starrte in die Wirbel. In Gedanken konnte er alles sagen. Er konnte sagen: Hast du denn überhaupt keinen Anstand im Leib? Oder: Hast du vollständig den Verstand verloren? Oder: Was in aller Welt soll ich denn mit dir anfangen? In Gedanken hörte er die Wörter, und seine Stimme klang gut, eine schöne Männerstimme. Nicht wie seine eigene grobe, nein. Er dachte an die Mutter, die herumrannte und Schubladen und Schränke auf den Kopf stellte. Sie wollte immer alles so genau wissen. Aber sein Schweigen beschützte ihn. Er war aus Granit. Fünfzig Jahre lang hatte seine Mutter mit Stemmeisen
Weitere Kostenlose Bücher