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Schwarze Sekunden: Roman (German Edition)

Schwarze Sekunden: Roman (German Edition)

Titel: Schwarze Sekunden: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Fossum
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Hauptkommissar hatte Skarre einfach unter seine Fittiche genommen. Hatte ihn vorwärts geschoben und ihm Verantwortung übertragen. Und dieses Vertrauen wollte Skarre sich auch weiterhin verdienen.
    »Was haben diese kleinen Mädchen nur«, sagte Sejer. »Jetzt wechseln sie ein ganzes Jahr lang Briefe und schreiben fast nur über Tiere. Fast kein einziger Mensch wird da erwähnt. Sondern nur Kaninchen, Pferde und Hunde.«
    »Sie schreibt auch über eine Echse«, sagte Skarre und ging Gläser holen. »Einen Leguan, der Iggy Pop heißt. Ziemlich witzig, finde ich.«
    »Haben sie mit Menschen so schlechte Erfahrungen gemacht?«
    Sejer hob die Stimme, denn Skarre war nicht mehr in der Nähe.
    »Das ist so eine Mädchensache«, meinte Skarre. »Mädchen wollen sich gern um irgend etwas kümmern. Wollen Fürsorge zeigen und sich nützlich machen. Jungen ziehen Dinge vor, die sie kontrollieren können. Autos lenken zum Beispiel. Arrangieren, bauen, zusammensetzen, beeinflussen und manipulieren. Mädchen haben eine andere Art Mut, sie wagen es, sich hinzugeben. Und sie haben weniger Angst vor dem Versagen.«
    Er nahm die Whiskyflasche aus einem Schrank. Sie war noch zu einem Dreiviertel voll.
    »Seit wann trinkst du Whisky?« fragte Sejer.
    »Seit ich dich kenne.«
    Sejer bekam seinen Whisky. Er hob das Glas an die Nase. Skarre schüttelte eine Prince aus der Packung und gab sich Feuer. Sejer streckte die Hand nach dem Kästchen auf der Fensterbank aus, um die Briefe zurückzulegen. Zufällig schaute er hinein. Unten im Kästchen lag etwas, etwas Weiches und Leichtes.
    »Eine Feder«, sagte er überrascht und hob sie erstaunt hoch. »Eine rote Feder.«
    Skarre starrte die Feder in Sejers Hand an. Eine schöne rote Feder, zehn Zentimeter lang.
    »Die stammt nicht von einem Wellensittich«, sagte er. »Das muß ein größerer Vogel sein. Ein Papagei. Aras sind rot. Vielleicht gehört sie einem Ara?«
    »Sie hat sie Helga nicht gezeigt«, sagte Sejer nachdenklich. »Warum nicht?«
    Skarre schaute ihn über den Tisch hinweg an.
    »Ich hätte das getan«, sagte er überzeugt. »Mit zehn Jahren. Wenn ich so eine Feder gehabt hätte. Dann hätte ich auch eine Krähenfeder herumgezeigt.«
    »Ich auch«, sagte Sejer. »Ich werde Helga sicherheitshalber noch einmal fragen. Aber diese Feder sollte sicher ein Geheimnis sein.«
    Sejer ließ sich von Skarre einen Briefumschlag geben. Vorsichtig legte er die Feder hinein und schob den Umschlag in seine Jackentasche. Danach lief er durch die Straßen und freute sich über dieses bescheidene Fundstück. Und wieder mußte er lächeln. Eine rote Feder. Wie einfach. Kinder sammeln so vieles. Sie sind bodennäher, dachte er, und sie sehen viel mehr als wir. Unter den Laternen sah er seinen Schatten, der wuchs zu einem Monstrum heran und kroch dann als Zwerg in sich zusammen. Immer wieder, bei jeder Laterne. Morgen sind es zehn Tage, dachte er. Morgen dauert Helga Joners Albtraum schon zweihundertvierzig Stunden an. Sie liegt im Bett und wartet. Sie starrt aus dem Fenster und wartet. Das Telefon steht auf dem Wohnzimmertisch, in der einen Sekunde als glühende Hoffnung, in der nächsten schwarz und feindselig.
    Ida wartete auf nichts. Ihr schmächtiger Körper war in eine geblümte Bettdecke gewickelt worden. Als Sejer die Tür zu seiner im zwölften Stock gelegenen Wohnung öffnete, hielt einige Kilometer weiter ein Auto, und es wurde ein Bündel an den Straßenrand gelegt. In dem graubraunen Gras war das Bündel sehr gut zu sehen. Das Tageslicht sollte nur kommen.
    *

10 . S EPTEMBER .
    Es war sieben Uhr morgens. Sejer stand am Wohnzimmerfenster und starrte auf den Parkplatz hinunter. Er hatte soeben seinen Schlips gebunden und schob den Knoten zum Kragen hoch. Dann klingelte das Telefon.
    »Wir haben sie gefunden«, wurde ihm mitgeteilt.
    Es war Skarres Stimme. Kurz und bündig. »Sie ist in eine Decke gewickelt.«
    »Wo?« fragte Sejer. Etwas in ihm wurde schwer wie ein Stein. Er war darauf vorbereitet gewesen, aber offenbar hatte er doch noch Hoffnung gehabt, denn jetzt empfand er eine tiefe Trauer.
    »Bei Lysejordet. Fahr zur Spinnerei. Und dann vieroder fünfhundert Meter weiter. Dann siehst du uns.«
     
    Trotz der vielen Menschen herrschte am Fundort tiefe Stille. Die Leute liefen langsam umher, alles geschah durchdacht und konzentriert. Alle redeten mit gedämpften Stimmen. Sejer ließ seine Wagentür zufallen. Langsam legte er die letzten Meter zurück.
    »Wer hat das gemeldet?«

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