Schwarze Sekunden: Roman (German Edition)
Vogel nie gehört, und das wundert sie. Strenggenommen kann das bedeuten, daß Ida jemanden kennengelernt und Helga nichts davon erzählt hat.«
»Es wäre gut, so einen Anhaltspunkt zu haben«, sagte Skarre und nickte.
»Jetzt teilen wir die Briefe«, sagte Sejer. »Christine hat Ida vierundzwanzig Briefe geschrieben, und Ida hat vielleicht ebensooft geantwortet. Das Ganze ist chronologisch geordnet. Und achte auf alles, was mit diesem Vogel zu tun haben kann.«
Skarre zog eine Stehlampe ans Sofa und drehte den Schirm so, daß Sejer das meiste vom Licht abbekam. Für einen Moment schauten sie einander an, verlegen angesichts dessen, was sie hier vorhatten. Die Briefe eines Mädchens an eine Freundin waren nicht für ihre Augen bestimmt. Sejer hatte Tagebücher gelesen, er hatte in privaten Fotoalben geblättert und sich Videoaufnahmen angesehen. Er hatte Kinderzimmer und die Schlafräume Erwachsener betreten. Und immer kam er sich zudringlich dabei vor. Auch wenn es in guter Absicht geschah, wenn es galt, Ida zu finden, kam es ihm nicht richtig vor. Das alles hatten sie sich beide schon oft überlegt. Jetzt vertieften sie sich in die Lektüre. Es war ganz still in Skarres Wohnzimmer, nur die Briefe knisterten. Christine aus Hamburg benutzte allerlei Briefpapier. Die Bögen waren mit Vögeln und Blumen verziert. Manchmal waren die Buchstaben bunt gemalt, rot oder blau. Es gab auch Aufkleber, Pferde und Hunde, Monde und Sterne.
»Ich glaube, wir brauchen Idas Briefe«, sagte Skarre. Sie hatten lange gelesen. Beide waren gerührt.
»Kannst du Deutsch?« fragte Sejer.
»My German is excellent«, sagte Skarre herablassend.
»Was ist mit Holthemann?«
Skarre dachte über die Fähigkeiten des Abteilungsleiters nach.
»Glaub ich nicht. Aber Christine ist zehn. Ihre Eltern sind also vielleicht Mitte Dreißig oder Vierzig. Und dann müßten sie doch Englisch können.«
»Wir rufen sie an«, entschied Sejer. »Kannst du das übernehmen, Jacob?«
Diese verlegene Bitte entlockte Skarre ein Lächeln. Sejer verstand Englisch zwar problemlos, mochte es aber nicht sprechen. Es lag an der Aussprache, die wollte ihm nicht gelingen.
»Aber klar. Selbstverständlich!« rief Skarre. Sejer verdrehte die Augen.
Sie lasen noch weiter in den Briefen. Christine klang höflich und charmant, sie war vielleicht ein Typ wie Ida, gut in der Schule und pflichtbewußt.
»Ein sprechender Vogel«, sagte Skarre, »das ist sicher ein Wellensittich. Oder ein Papagei.«
»Oder ein Rabe«, meinte Skarre. »Raben sind gute Nachahmer.«
»Und noch was«, erinnerte sich jetzt Sejer. Er legte die Briefe auf den Tisch. »Laila im Kiosk.«
»Ja«, sagte Skarre. »Das habe ich mir auch schon überlegt. Wir wissen nur von Laila, daß Ida nie dort angekommen ist. Und darauf haben wir uns verlassen. Weil wir es mit einer Frau zu tun hatten. So leichtgläubig sind wir.«
Sejer musterte ihn überrascht.
»Deshalb habe ich mal nachgesehen«, sagte Skarre, ganz lässig, als sei das selbstverständlich gewesen. »Laila Heggen ist mehrmals mit dem Finanzamt aneinandergeraten. Sie schlampt ein wenig bei der Buchführung«, er grinste. »Sie ist ledig, kinderlos, geboren 69 und hat den Kiosk seit vier Jahren. Vorher hat sie in Oslo im Jugendamt gearbeitet. Im Büro«, fügte er hinzu. »Nicht in freier Wildbahn.«
Sejer war beeindruckt.
»Wer hört beim Jugendamt auf und legt sich einen Kiosk zu?« fragte er nachdenklich.
»Laila Heggen«, sagte Skarre. »Und ich werde herausfinden, warum.«
»Du denkst wirklich scharf nach, Jacob«, sagte Sejer leise.
»Ich habe von dir gelernt«, erwiderte Skarre.
Sie schwiegen einen Moment.
»Hast du deinen Tabak bei dir?« fragte dann Skarre.
Sejer schüttelte den Kopf. »Ich habe nie Tabak bei mir. Warum willst du das wissen?«
»Ich habe eine Flasche Famous Grouse.«
Sejer bedachte das Angebot und starrte dabei aus dem Fenster. Einen Whisky kann ich mir wohl erlauben, überlegte er. Der Wagen kann bis morgen hier stehen. Ich gehe zu Fuß nach Hause. Dieses eine Mal.
»Prince will ich nicht«, sagte er, als Skarre ihm die Packung hinhielt. »Aber einen Whisky nehm ich gern.«
Skarre sprang sofort auf. Er freute sich darüber, daß sein Chef ja gesagt hatte. Er wollte gern mit ihm im Dunkeln sitzen und überlegen. Seine Bewunderung für Sejer kannte keine Grenzen. Ab und zu kam er sich geradezu wie ein Erwählter vor. Sejer war ansonsten nicht gerade sozial, was seine Umgangsformen betraf. Der
Weitere Kostenlose Bücher