Schwarze Sekunden: Roman (German Edition)
legte auf. Ging zum Küchentisch und zog ein Stück braunes Packpapier aus der Schublade. Auf der Fensterbank lag ein Bleistiftstummel. Langsam schrieb er mit großen deutlichen Buchstaben seinen Namen darauf. Da stand er nun in seiner ganzen Pracht.
Emil Johannes Mork.
Er hob den Blick zum Fenster. Sein Gesicht verzog sich trotzig, wie das eines kleinen Kindes, das etwas klarstellen, das sich nicht unterdrücken lassen will. Ich habe doch eine gute Erklärung, dachte er.
Draußen schien die Sonne. Die SONNE. Das schrieb er auf. Viele Wörter waren leicht. Er schrieb ESSEN, weil er merkte, daß er Hunger hatte. Andere Wörter machten größere Probleme. Er dachte an »Mißverständnis«, mußte aber aufgeben. Aber das Wort TOD war leicht. Nach einigen wenigen Minuten knüllte er den Bogen zu einem Ball zusammen. Lange stand er dann so da und preßte das Papier zu einer harten kleinen Kugel zusammen. Er ermannte sich und ging ins Wohnzimmer. Zuerst öffnete er die Klappe im Käfig. Er hielt dem Vogel die Papierkugel hin. Sofort hob der Vogel den Fuß und riß die Kugel an sich. Dann zerfetzte er wütend das Papier mit dem Schnabel. Scharfes Rascheln war zu hören, dann fiel es in dünnen hellen Streifen auf den Käfigboden. Emil schlug die Zeitung auf. Dann blätterte er sie langsam durch.
Als er die Zeichnung sah, erstarrte er zu Eis. O verflixt, dachte er und bekam eine Gänsehaut. Es war eine schreckliche Zeichnung, denn sie hatte Ähnlichkeit mit seiner Mutter und dann auch wieder nicht. Er kämpfte sich durch den Text. Viele Wörter waren zu lang für ihn, aber etwas bekam er doch mit. Er ließ die Zeitung sinken und rieb sich nervös über den Kopf. Das stimmt doch alles gar nicht, dachte er. Die haben rein gar nichts kapiert.
*
T OMME WAR ZU Hause in Madseberget. Er öffnete die Tür zum Gang und stellte seine Tasche ab. Sofort hörte er die Schritte der Mutter. Gleich darauf stand sie vor ihm und musterte ihn fragend. Sie wollte alles über die Fahrt nach Kopenhagen hören. Solche Dinge interessieren Mütter eben. Sie glauben, darauf ein Recht zu haben, dachte Tomme. Haben sie das?
Er streifte seine Jacke ab. Die ganze Zeit arbeitete es in seinem Kopf. Ich könnte ihr die Wahrheit sagen, dachte er, ich könnte herumfahren und sie ihr voll ins Gesicht schreien. Daß etwas ganz Entsetzliches passiert ist. Daß es nicht zu fassen ist. Und dann würde alles explodieren, in ihm und in seiner Mutter. Also tat er es nicht. Er entschied sich für das Ticken. Er hörte seine Stimme sagen, es sei ein schöner Ausflug gewesen. Diese Worte kamen ganz von selbst, und überrascht hörte er seinen Bericht über das Wochenende in Kopenhagen, in dem er auf das Wetter einging (windig), auf die leckeren belegten Brote in den Cafés und auf die enge Kabine. Danach ging er ins Badezimmer. Er mußte sich unbedingt die Zähne putzen. Ruth schaute lange hinter ihm her.
Er kam ihr eigentlich bleich und erschöpft vor, aber Jungs sind eben Jungs, dachte sie. Und dieser Bjørn, mit dem er gefahren war, war durch und durch solide, das wußte sie. Tomme blieb lange im Badezimmer. Sie dachte, er sei dort vielleicht eingeschlafen, auf dem beheizten Boden, wie Marion das als Kind so oft getan hatte. Er kam einfach nicht wieder zum Vorschein. Es war ganz still.
»Schläfst du?« rief sie durch die Tür. Er hüstelte, und sie hörte, wie das Wasser aufgedreht wurde.
»Aber nicht doch«, sagte er.
Dann ging sie wieder in die Küche. Er ist doch fast erwachsen, dachte sie. Ich kann doch nicht erwarten, daß er sich abmeldet, wenn er das Haus verlassen will. Sie mußten einen Weg zurück in die Normalität finden. Aber Idas Tod schien das ganze Haus erschüttert zu haben. Überall schauten neue Probleme hervor, wohin sie sich auch wandte. Er war doch wirklich ungewöhnlich blaß gewesen? Seine Stimme klang mechanisch, als sage er einen auswendig gelernten Spruch auf. Sie hatte Tommes Ehrlichkeit nie bezweifelt. Sie hatte sie als selbstverständlich hingenommen. Genauso dachte sie über ihre Tochter Marion und ihren Mann Sverre. Daß beide immer die Wahrheit sagten. Trotzdem machte der Gedanke an ihren Sohn und dessen Verhalten ihr noch immer Sorgen. Etwas bohrte und nagte in ihr. Das deutliche Gefühl, daß er sich mit etwas herumquälte. Ihre starke Intuition, die ihr sagte, daß er log. Das liegt nur daran, daß ich müde bin, dachte sie, ich kann nicht mehr klar denken. Ich bin in einen Teufelskreis geraten. Von jetzt an muß ich
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