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Schwarze Sekunden: Roman (German Edition)

Schwarze Sekunden: Roman (German Edition)

Titel: Schwarze Sekunden: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Fossum
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war mit Willy allein unterwegs«, sagte Tomme.
    Seine Worte waren fast nicht zu hören. Das Ticken wurde für einen Moment leiser, war aber gleich wieder da, als er verstummte.
    »Hast du mich belogen?« fragte sie mit zitternder Stimme.
    »Ja«, sagte er tonlos.
    »Aber wo steckt er denn nun?« fragte sie, jetzt lauter. »Seine Mutter sagt, daß er nicht nach Hause gekommen ist. Habt ihr zusammen den Bus genommen?«
    »Wir haben uns oben in der Stadt getrennt«, sagte Tomme und starrte noch immer Anubis an. »Er ist mit der U-Bahn weitergefahren. Vom Egertorg aus.« Er sah die blaue Windjacke vor sich, als die in der Tiefe verschwand. Dieses Bild, das er sich zurechtgelegt hatte.
    Die Mutter reichte diese Auskünfte an Willys Mutter weiter. Sie hatte noch immer diesen nackten Blick in den Augen. Am liebsten hätte sie den Hörer auf die Gabel geknallt und sich auf ihren Sohn gestürzt. Aber sie mußte sich den Wortstrom der Anruferin anhören. Willys Mutter wollte genau wissen, wann die Jungen sich getrennt hatten. Was Willy gesagt hatte. Sie fand überhaupt kein Ende.
    »Ich habe am Universitetsplass den Bus genommen«, sagte Tomme wahrheitsgemäß. »Willy hat keine Namen genannt, er ist einfach losgegangen. Wollte zu irgendeinem Kumpel.«
    Die Mutter reichte auch diese Auskünfte weiter. Endlich legte sie auf. Sie blieb neben dem Telefon stehen und sah ihn an.
    »Jetzt hast du mir einiges zu sagen«, sagte sie beängstigend leise. Sie wußte, daß Marion zuhörte, aber sie konnte sich nicht beherrschen. Tomme nickte.
    »Er hat gefragt, ob ich mitkommen wollte«, gab er zu. »Ich fand es schwierig, nein zu sagen. Er hatte doch tagelang an dem Auto gearbeitet.«
    »Ich finde, es wird höchste Zeit, daß du selbst entscheidest, was du tust«, sagte Ruth streng. »Du darfst dich nicht mehr von ihm herumkommandieren lassen. Aber das Schlimmste ist, daß du mich belogen hast.«
    »Ja«, sagte Tomme kleinlaut.
    »Ich will keine Lügen hören!« rief sie wütend. »Du enttäuschst mich!«
    »Ja«, sagte Tomme. Er ließ alles über sich ergehen, versuchte nicht, auszuweichen.
    Plötzlich brach Ruth in Tränen aus. Tomme saß bewegungslos im Sessel, und Marion verschwand noch tiefer in ihrem Mathebuch.
    »Ich bin so müde«, schluchzte Ruth.
    Als keins der Kinder etwas sagte, versuchte sie wieder, sich zusammenzureißen.
    »Aber warum ist Willy nicht nach Hause gekommen?« wollte sie dann wissen. »Warum ist er nach der langen Reise nicht zuerst nach Hause gefahren?«
    Tomme starrte noch immer in seine Zeitung.
    »Er hatte sicher etwas vor«, sagte er. »Ich hab mich da nicht eingemischt. Wir sind ja nicht gerade ein Liebespaar.«
    »Na gut.« Sie zögerte. »Aber ich finde es eben seltsam. Daß er nicht erst nach Hause wollte.«
    Tomme blätterte endlich zur nächsten Seite weiter. Ruth dachte an Willy. Der war ja immerhin zweiundzwanzig, da brauchte sie sich doch nicht um ihn zu sorgen. Aber wieder machte etwas ihr zu schaffen. Sie konnte nicht stillsitzen. Sie lief durch das Haus und fing an, aufzuräumen. Die Wut loderte wieder in ihr auf, und sie überlegte, daß Tomme zu leicht davongekommen sei. Sie wollte keinen Lügner im Haus, das wäre eine zu große Belastung. Auf dem Flur fand sie Tommes Tasche, mit Pullover und Jacke. Und einigen braunen Plastiktüten. Vier Stück, so groß wie Kaffeetüten. Erstaunt hob sie eine hoch. Sie drückte auf die Tüte und betastete sie. Es fühlte sich an wie kleine Pillen oder Tabletten. Ihr Mund war schneller als ihre Gedanken, als sie zu ihrem Sohn ins Zimmer ging. Jetzt war sie wie ein Vulkan unmittelbar vor dem Ausbruch. Sie bebte am ganzen Leib, und ihre Wangen waren tiefrot.
    »Was um alles in der Welt hast du in Dänemark gekauft?«
    Tommes Blick fiel auf die Tüten. Er glotzte nur. Dann ging ihm langsam die Wahrheit auf, sie kroch aus den Zehen hinauf in seinen Leib wie sich windende Würmer. Willy hatte den Stoff in seine Tasche geschmuggelt. Das begriff er jetzt, und er wollte alles erklären, brachte aber kein Wort heraus.
    Nun konnte Ruth nicht mehr an sich halten. Sie war außer sich vor Angst, aber die Angst sank tief in sie hinab, um gleich darauf als heftiger Zorn wieder nach oben zu drängen. Jetzt war das Allerschlimmste geschehen, und diesmal würde sie nicht klein beigeben. Sie lief zu dem Tisch, an dem er saß, und zerfetzte die Tüte mit ihren Fingernägeln. Hunderte von winzigen Pillen fielen heraus. Sie rollten an Kaffeetassen und Teelöffeln vorbei, sie

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