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Schwarze Sekunden: Roman (German Edition)

Schwarze Sekunden: Roman (German Edition)

Titel: Schwarze Sekunden: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Fossum
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kullerten über die Kante und auf den Boden. Sie vergaß, daß Marion mit ihren Schulaufgaben am Eßtisch saß, sie vergaß alles, was Takt und Vorsicht genannt wird, das hier war ernst! Jetzt wollte sie sich ihren Sohn ein für allemal vornehmen, denn nun wußte sie, daß ihre vielen Sorgen berechtigt gewesen waren.
    Tomme glotzte noch immer. Die Zeitschrift rutschte ihm aus der Hand. Er sah seine Schwester Marion wie einen Schatten hinten am Eßtisch.
    »Jetzt kapiere ich«, sagte er kleinlaut.
    Ruth war weiß wie Papier.
    »Da bist du weiter als ich«, sagte sie verbissen. »Und jetzt erklärst du mir ein für allemal, was du mit Willy eigentlich treibst.«
    Es ist wohl so, wenn Menschen die Wahrheit erzählen, die ganze und volle Wahrheit, die allertiefste, die aus dem Herzen stammt, dann haben sie ein ganz eigenes Licht in den Augen, eine Art Schimmern der Unschuld, das sich in ihrer Stimme widerspiegelt, und die Stimme hat einen ganz eigenartigen, gerechten Klang, eine überzeugende Stärke, die sich einfach nicht ignorieren läßt. Und wenn Menschen Angst haben, so wie jetzt Tomme Angst hatte, dann kann nur die pure, lautere Wahrheit sie retten. Deshalb wird sie sich am Ende immer durchsetzen. Wenn alles weit genug gekommen ist. Wenn zuviel Schreckliches passiert ist. Es ist wohl so, wenn schon der Tod durch die Zimmer eines Hauses gestrichen ist, dann können nur die Steinharten und durch und durch Zynischen noch immer eine Lüge servieren. So dachte Ruth, während sie Tomme und seiner Geschichte zuhörte. Und sie glaubte ihm. Nicht weil ich seine Mutter bin, dachte sie, sondern weil ich ihn kenne und ihm ansehen kann, ob er lügt. Und das hat er getan, sehr oft. Aber diesmal lügt er nicht. Er hatte die Zeitschrift losgelassen und auf seinen Knien die Fäuste geballt. Er hatte sie mit seinen blauen Augen angesehen, in denen dieses unschuldige Licht strahlte, zusammen mit der innigen Bitte, dem starken Appell, daß er jetzt, in dieser Sekunde, nach vielen zweifelhaften Ausflüchten, endlich die Wahrheit sagte. Und Ruth nickte. Willy hatte ihn aufs Gröbste an der Nase herumgeführt. In aller Heimlichkeit hatte er Tomme dazu gezwungen, die Tabletten durch den Zoll zu bringen. Sie wischte sich ihre Tränen ab und merkte, daß sie vor Anstrengung schweißnaß war. Und sie war stark. Sie stellte Bedingungen. Er mußte jeden Kontakt zu Willy abbrechen und sich andere Freunde suchen. Zusammen würden sie die Tabletten in der Toilette verschwinden lassen. Eigentlich hätten sie damit natürlich zur Polizei gehen müssen, aber diese Chance sollte Tomme haben. Und wenn Willy auftauchte, um seine Ware zu verlangen, dann sollte Tomme ihm die Wahrheit sagen. Daß sie irgendwo im Abwassersystem unterwegs war. Jetzt war Tomme derjenige, der nickte. Er blickte seiner Mutter voll ins Gesicht und nickte und nickte mit seinem dunklen Schopf. Und ihm fiel ein, daß Willy einmal die Bar verlassen hatte, um in der Kabine »etwas zu checken«. Er begriff jetzt alles. Und Ruth verließ sich auf ihn. Daß er Willy so hilflos ausgeliefert gewesen war, paßte zu ihm, er war nicht stark genug, um sich einem vier Jahre Älteren gegenüber zu behaupten. Das konnte sie verzeihen. Und sie war davon überzeugt, daß Tomme selbst niemals Rauschgift genommen hatte. Das hätte sie gemerkt. Sie sprachen lange und über viele Dinge. Tomme begriff, daß er jetzt nicht gehen konnte, er mußte warten, bis seine Mutter fertig war. Wenn sie endlich verstummte, wollte er auf sein Zimmer gehen und sich auf den Rücken ins Bett legen. Dort wollte er die Decke anstarren und sich in seine eigene Welt einkapseln. Und das Ticken würde weitergehen. Wie seltsam, dachte er, daß das passiert. Daß ich hier im Sessel sitze und nicke. Auf dem Tisch stehen Waffeln und Marmelade. Wenn ich will, kann ich mir eine Waffel nehmen. Wenn sie fertig ist. Eigentlich habe ich Lust auf eine Waffel. Dabei stellte er sich den Geschmack von süßer Marmelade und salziger Butter vor.
    »Und jetzt gibt es für lange Zeit keine weiteren Unannehmlichkeiten mehr«, sagte Ruth. »Ist das klar?«
    Tomme nickte. Arme Mutter, dachte er und hätte losheulen können, riß sich aber zusammen. Es würde noch jede Menge Zeit zum Heulen geben. Später.
    Plötzlich fiel Ruth ein, daß ihre Tochter am Eßzimmertisch saß. Verwirrt lief sie zu ihr hinüber und nahm sie in den Arm.
    »Marion!« sagte sie. »Willy hat Dinge getan, die verboten sind. Er versucht, deinen Bruder mit hineinzuziehen,

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