Schwarzer Mond: Roman
deutlich bewusst. Als die Schatten im Schnee länger wurden, umklammerte er Fayes Arm immer fester, so dass es schmerzhaft gewesen wäre, wenn sie nicht einen schweren Mantel und darunter einen dicken Pullover getragen hätte.
Sie hatten sieben Blocks passiert und waren viel zu weit vom Haus entfernt, um es noch erreichen zu können, bevor es vollständig dunkel wurde. Zwei Drittel des Himmels waren schon schwarz, und das restliche Drittel war von einem dunklen Purpurrot.
Die Straßenbeleuchtung wurde eingeschaltet. Faye blieb mit Ernie unter einem dieser Lichtkegel stehen, um ihm noch einen kurzen Aufschub zu gewähren. Seine Augen hatten einen gehetzten Ausdruck, und seine raschen, heftigen Atemzüge verrieten Anfänge einer Panik.
»Denk daran, deine Atmung zu kontrollieren«, ermahnte ihn Faye.
Er nickte und begann sogleich, langsamer und tiefer Luft zu holen.
Als auch der letzte Lichtstreifen am Himmel verschwunden war, fragte sie: »Bist du jetzt bereit zurückzugehen?«
»Ja«, murmelte er tonlos.
Sie traten aus der Lichtinsel der Straßenlampe in die Dunkelheit hinaus, und Ernie stöhnte unwillkürlich mit zusammengebissenen Zähnen auf.
Was sie soeben zum drittenmal ausführten, war eine dramatische Therapietechnik, bei welcher der Patient dazu angehalten wird, sich dem zu stellen, wovor er sich fürchtet, und das so lange durchzuhalten, bis es keine Macht mehr über ihn hat. Diese Therapie basiert auf der Tatsache, dass Anfälle von Panik nur in begrenzter Zahl möglich sind. Der menschliche Körper kann ein hohes Maß an Panik nicht endlos ertragen, kann nicht endlos Adrenalin produzieren, und deshalb muss der Geist sich dieser physischen Unmöglichkeit irgendwie anpassen und mit dem, wovor er sich fürchtet, Frieden - oder zumindest einen Waffenstillstand -schließen. Unmodifiziert angewandt, kann diese Technik allerdings eine grausame, barbarische Bekämpfungsart der Phobie sein und den Patienten dem Risiko eines völligen Zusammenbruchs aussetzen. Dr. Fontelaine bevorzugte deshalb eine etwas abgewandelte Version, die drei Stadien der Konfrontation mit der Angst unterschied.
In Ernies Fall bestand das erste Stadium darin, sich eine Viertelstunde lang der Dunkelheit auszusetzen, aber mit Faye an seiner Seite und mit leicht erreichbaren Lichtzonen. Jedesmal, wenn sie den beleuchteten Gehweg unter einer Straßenlampe erreichten, blieben sie kurz stehen, damit er seinen ganzen Mut wieder zusammennehmen konnte, bevor sie von neuem in die Dunkelheit eintraten.
Das zweite Stadium, das sie in ein, zwei Wochen ausprobieren würden, nach weiteren Sitzungen beim Arzt, würde die Fahrt an einen Ort sein, wo es keine Straßenbeleuchtung gab, keine leicht erreichbaren Lichtzonen. Dort würden sie Arm in Arm durch völlige Finsternis gehen, bis Ernie es nicht mehr aushalten konnte. Dann sollte Faye eine Taschenlampe anknipsen und ihm eine Erholungspause gönnen.
Im dritten Stadium der Behandlung würde Ernie dann allein eine dunkle Strecke zurücklegen müssen, und nach einigen einsamen Wanderungen dieser Art würde er mit größter Wahrscheinlichkeit geheilt sein.
Aber noch war er nicht geheilt, und als sie sechs der sieben Blocks hinter sich gebracht hatten, atmete Ernie wie ein galoppierendes Rennpferd und stürzte wie gehetzt auf das helle Haus seiner Tochter zu. Aber sechs Blocks waren kein schlechtes Ergebnis. Besser als bei den vorigen Malen. Bei diesem Tempo würde er rasch geheilt sein.
Als Faye ihrem Mann ins Haus folgte, wo Lucy ihm schon den Mantel abnahm, versuchte sie, sich über die bereits erreichten Fortschritte zu freuen. Wenn Ernie so weitermachte, würde er auch das dritte und letzte Stadium bereits Wochen vor dem von Dr. Fontelaine prognostizierten Zeitpunkt erreichen. Und gerade das beunruhigte Faye. Die rasche Besserung seines Zustandes war erstaunlich - viel zu erstaunlich, um real sein zu können, so schien es Faye. Sie wollte glauben, dass dieser Alptraum bald hinter ihnen liegen würde, aber das Tempo seiner Fortschritte ließ sie daran zweifeln, dass der Erfolg von Dauer sein würde. Obwohl sie sich wie immer um eine positive Denkweise bemühte, wurde Faye Block das instinktive entnervende Gefühl nicht los, dass etwas nicht in Ordnung war. Absolut nicht in Ordnung.
Boston, Massachusetts
Mit seinem exotischen Hintergrund als Picassos Patensohn und als ehemals berühmter europäischer Bühnenkünstler war Pablo Jackson in Bostoner Gesellschaftskreisen selbstverständlich ein
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