Schwarzer Mond: Roman
»könnte Emmy in drei Monaten ein normales, gesundes Mädchen sein. Wirklich phänomenal!«
»Stellen Sie sich das nur einmal vor - sie könnte völlig gesund sein!«
Sie lachten Vater Wycazik an, und er brachte es nicht übers Herz, auch nur anzudeuten, dass Emmelines Heilung weder auf ihre intensiven Bemühungen noch auf das Wundermedikament zurückzuführen sein könnte. Sie waren so euphorisch, dass Stefan nichts von der Möglichkeit erwähnte, dass Emmys Genesung durch eine Macht bewirkt wurde, die noch weitaus geheimnisvoller als die moderne Medizin war.
Milwaukee, Wisconsin
Das Weihnachtsfest mit Lucy, Frank und den Enkeln war für Ernie und Faye Block die reinste Medizin. Als sie gegen Ende des Nachmittags zu zweit einen Spaziergang machten, fühlten sie sich besser als seit Monaten.
Das Wetter war ideal zum Spazierengehen: kalt, aber windstill. Der letzte Schnee war vor vier Tagen gefallen, und die Gehwege waren geräumt. Als die Dämmerung nahte, schimmerte die Luft purpurfarben.
In dicke Mäntel und Schals gehüllt, schlenderten Faye und Ernie Arm in Arm dahin, unterhielten sich angeregt über die Ereignisse des Tages und erfreuten sich an den Weihnachtsdekorationen auf den Rasenflächen von Lucys und Franks Nachbarn.
Faye hatte das Gefühl, als wären Ernie und sie erst kurze Zeit verheiratet, jung und noch voller Träume.
Seit sie vor nunmehr zehn Tagen, am 15. Dezember, in Milwaukee angekommen waren, hatte Faye guten Grund zu der Hoffnung, dass alles wieder gut werden würde. Ernie fühlte sich besser - sein Gang hatte neuen Elan bekommen, und er lächelte oft, nicht gezwungen wie in den vergangenen Monaten, sondern richtig frohgemut. Dass er sich hier in der Liebe seiner Tochter, seines Schwiegersohnes und seiner Enkel sonnen konnte, nahm ihm offensichtlich einen Teil der lähmenden Angst, die zum Zentrum seines Lebens geworden war.
Auch die therapeutischen Sitzungen bei Dr. Fontelaine - bisher sechs an der Zahl -waren überaus wirksam gewesen. Ernie fürchtete sich immer noch vor der Dunkelheit, aber doch bei weitem nicht mehr so schlimm wie zuletzt in Nevada. Nach Aussage des Arztes waren Phobien leicht zu behandeln, verglichen mit anderen psychischen Erkrankungen. Die Therapeuten hatten in den letzten Jahren entdeckt, dass in den meisten Fällen die Symptome nicht etwa Auswirkungen ungelöster Konflikte im Unterbewusstsein des Patienten waren, sondern die Krankheit praktisch nur aus diesen Symptomen bestand. Es wurde daher nicht mehr als notwendig - oder auch nur wünschenswert - erachtet, nach den psychischen Ursachen für die Angstzustände zu suchen, um sie behandeln zu können. Anstatt den Patienten einer monate- oder jahrelangen Therapie zu unterziehen, brachte man ihm Desensibilisierungstechniken bei, mit deren Hilfe er die Symptome in wenigen Monaten oder sogar Wochen völlig beseitigen konnte.
Etwa ein Drittel aller Phobien konnte mit dieser Methode allerdings nicht geheilt werden; in solchen Fällen war eine Langzeitbehandlung erforderlich, oft auch starke Beruhigungsmittel wie etwa Alprazolam. Aber Ernies Zustand hatte sich so rasch gebessert, dass sogar Dr. Fontelaine - schon von Natur aus ein Optimist - erstaunt darüber war.
Faye hatte in den letzten zehn Tagen viel über Phobien gelesen und dabei festgestellt, dass sie Ernie helfen konnte, indem sie ihm von merkwürdigen und oft unfreiwillig komischen Fällen erzählte, wodurch er seinen eigenen Zustand aus einer weniger erschreckenden Perspektive sehen konnte. Die Tatsache, dass es Pteronophobien gab - Menschen, die in ständiger unvernünftiger Angst vor Federn lebten -, ließ seine Angst vor der Dunkelheit nicht nur erträglich, sondern fast normal und logisch erscheinen. Menschen mit Ichthyophobien hatten Angst vor der Möglichkeit, einem Fisch zu begegnen, Menschen mit Pediophobien rannten beim Anblick einer Puppe schreiend davon. Und Ernies Nyctophobie war sicherlich einer Coitophobie (der Furcht vor Geschlechtsverkehr) vorzuziehen und bei weitem nicht so schädlich wie Autophobie (die Angst vor sich selbst).
Während sie nun in der Dämmerung spazierengingen, versuchte Faye, Ernie von der hereinbrechenden Dunkelheit abzulenken, indem sie ihm von dem Schriftsteller John Cheever erzählte, der einmal den National Book Award erhalten hatte.
Cheever hatte unter Gephyrophobie gelitten -der lähmenden Angst, hohe Brücken zu überqueren.
Ernie hörte fasziniert zu, war sich des Einbruchs der Dunkelheit aber dennoch
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