Schwarzer Schwan
Täter war nicht von Zuhause gekommen, als er sich des weißen Golfs entledigte. Er kam von dem Ort, an dem er Leonie gefangen hält.
Und der musste folglich im Süden liegen.
Dominik faltete die Karte komplett auseinander und markierte auf allen Autobahnen die Punkte, von denen aus es keinen erkennbaren Streckenunterschied machte, ob man Ohligser Heide aus Norden oder Süden anfuhr. Er verband diese Punkte zu einer Linie, die von Lüdenscheid im Osten über Remscheid, Solingen, Dormagen und Grevenbroich bis Jülich im Westen verlief.
Von jedem Ort aus, der südlich der Markierung lag, würde man, wenn man auf kürzestem Weg zur Raststätte fuhr, sich zuletzt nordwärts auf der A3 bewegen und die entsprechende Seite ansteuern: Ohligser Heide Ost, wo Linda Hellers Golf von den beiden Jungs gefunden worden war.
Dominik betrachtete die Karte. Leonie konnte demnach in Aachen sein, irgendwo im Ballungsgebiet Köln-Bonn oder in dem ländlichen Raum, der rund um Kerpen, Düren und Euskirchen dazwischen lag. Genauso gut auch in der Eifel oder im Bergischen Land. Oder noch weiter südlich: Koblenz, Westerwald, das Rhein-Main-Gebiet …
Dominik rief sich zur Ruhe.
Schritt Nummer eins: Er öffnete sein Mailprogramm, schilderte die Umstände von Leonies Entführung in wenigen Sätzen und formulierte eine Bitte um Meldung vergleichbarer Fälle aus den letzten zehn Jahren. Die Akten, die Susi Hachmeister ihm in die Hand gedrückt hatte, bezogen sich nur auf den Raum Düsseldorf. Er musste das Areal erweitern.
Im Intranet der nordrhein-westfälischen Polizei recherchierte er die Mailadressen der Vermisstensachbearbeiter jener Kriminalhauptstellen, die innerhalb der Landesgrenzen südlich seiner gedachten Linie lagen.
Es waren drei: Aachen, Köln und Bonn.
Bevor Dominik seine Anfragen abschickte, erweiterte er den Zeitraum auf fünfzehn Jahre, um die Chance auf Treffer zu erhöhen. Es war Freitag, kurz vor zwölf. Wenn er noch vor dem Wochenende eine Rückmeldung haben wollte, musste er gleich nach der Mittagspause telefonisch nachhaken. Ihm war klar, dass er sich damit nicht beliebt machen würde, aber darauf kam es ohnehin nicht mehr an.
Schritt Nummer zwei: Er wählte Susannes Handynummer. Ihre Besprechung im KK 11 war inzwischen beendet, nahm Dominik an.
»Hachmeister«, meldete sie sich mit ihrer etwas rauchigen Stimme.
»Hast du eine Minute?«
»Sprich.«
»Du wirst mich vielleicht als fantasielos beschimpfen, aber ich halte die Aussage der beiden Jungs, die in Osnabrück geschnappt wurden, für glaubwürdig.«
»Vermutlich habt ihr recht.«
»Ihr?«
»Die Kollegen vom KK 11 teilen deine Ansicht. Sie haben beide noch einmal eingehend befragt.«
»Ganz spontan fällt mir wieder Uwe Heller ein.«
»Den kannst du vergessen. Seine Alibis sind überprüft und wasserdicht, glaub mir, Dominik. Es gibt Zeugen dafür, dass er am letzten Samstag den Wuppertaler Zoo besucht hat und am Dienstagabend diese Therme in Bergisch Gladbach.«
»Wirklich wasserdicht?«
»Er kann Leonie nicht entführt haben und mit Paula Busch hat er auch nichts zu tun. – Ich sitze übrigens gerade mit Anna Winkler zusammen und sie will dir etwas sagen.«
Dann die Stimme der KK-11-Kollegin, kalt und schneidend: »Dominik?«
»Hallo, Anna.«
»Ich will nichts zu Heller sagen, sondern zu Hanna Kaul. Die Frau ist observiert worden und hatte Wanzen in der Wohnung. Das heißt, sie ist ein Opfer, und dann wurde auch noch ihre Nichte gekidnappt, die bei ihr gewohnt hat. Weißt du, was das bedeutet? So eine Frau ist traumatisiert und völlig von der Rolle. Wehrlos, Kollege Roth. Mit ihr zu schlafen, ist allerunterste Schublade! Leichte Beute, dachtest du wohl. Das ist Missbrauch! Typen wie dich …«
Dominik schlug den Hörer auf die Gabel.
Sein Herz hämmerte.
69.
Das Leben musste weitergehen. Einkauf, Wäsche – Hanna teilte sich die Routine mit ihrer Schwester, bei der sie vorübergehend eingezogen war. Sie war froh, nicht allein zu sein, und Britta, deren Freund nur abends vorbeischaute, brauchte eine Stütze.
Nach dem Schock am Morgen hatte Hanna ihren Hausarzt aufgesucht und sich eine Spritze verpassen lassen, damit ihre Nerven nicht schlappmachten. Danach hatte sie sich in der Bank krankgemeldet. Ihr Teamleiter Lutz, die Modern Mining Ltd . und deren Seltenerdmetall-Projekt würden auch ohne sie zurechtkommen.
Die Küche ihrer Schwester war deutlich besser eingerichtet als ihre eigene. Hanna schälte eine Aubergine und würfelte
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