Schwarzer Schwan
sein.
Dominik trug die Tasse zu seinem Tisch. Er knöpfte sich wieder die beiden Aussagen vor, aber eine Fährte zu dem entführten Mädchen sprang ihm noch immer nicht ins Auge.
Anton Klußmann, dreiundzwanzig Jahre alt, studierte Cognitive Science an der Uni Osnabrück – was auch immer das bedeuten mochte. Er war mit seiner Freundin in Urlaub nach Italien gefahren, hatte sich nach einer Woche heillos mit ihr zerstritten und sich im Trotz allein per Autostopp auf den Rückweg gemacht.
Erik Harms lebte als Hartz-IV-Empfänger in Hamburg. Er war fünfundzwanzig und gelernter Tischler. Mit etwas Geld seiner Eltern hatte er die Mitgliedschaft im Deutschen Jugendherbergswerk erworben und war von Herberge zu Herberge nach Süden getrampt. Eigentlich wollte er eine Facebook-Bekannte am Mittelmeer treffen. Als er bemerkte, dass man per Anhalter in Frankreich nicht vorankam, änderte er seine Pläne und verbrachte einige Tage am Bodensee.
Gestern Vormittag hatten sich die beiden jungen Männer an einer Raststätte bei Nürnberg kennengelernt. Gemeinsam warteten sie auf eine Mitfahrgelegenheit zurück in den Nordwesten und hatten Glück. Der Fahrer eines klapprigen, roten Transporters nahm sie auf einen Schlag bis kurz vor Düsseldorf mit, froh, sich mit Klußmann, der einen Führerschein besaß, auf der sechsstündigen Strecke abwechseln zu können. An der Raststätte Ohligser Heide trennten sich ihre Wege, die beiden Tramper stiegen aus.
Der Nachmittag war bereits fortgeschritten, doch Klußmann und Harms hofften, es noch bis Osnabrück zu schaffen. Zwei Stunden lang hielten sie erfolglos den Daumen in den Wind, bis ihnen auffiel, dass der alte, weiße VW-Golf, der die ganze Zeit am äußersten Ende des Parkplatzes stand, nicht abgeschlossen war. Mehr noch: Das Fenster auf der Fahrerseite war heruntergekurbelt und der Schlüssel steckte.
Sie nahmen die Einladung an.
In Osnabrück deponierten sie ihre Sachen in Klußmanns Studentenbude, glaubten, einen Anlass zum Feiern zu haben, und begaben sich mit dem Auto auf Kneipentour. Die endete dann bald. Die Kollegen maßen fünfzehn Stundenkilometer über dem Limit, winkten die Jungs an den Rand und stellten bei der Überprüfung des Kennzeichens fest, dass das Fahrzeug vor gut einer Woche in Haan als gestohlen gemeldet worden war.
So die Story der beiden jungen Männer.
Was war daran wahr und was Dichtung?
Am Dienstagabend, als Leonie entführt worden war, wollte der eine in Lindau gewesen sein, der andere auf einem Campingplatz am Südufer des Chiemsees. Dominik notierte: Fahrer des roten Lieferwagens finden, entlang der Reiserouten von Harms/Klußmann nach Alibizeugen fahnden . Er könnte Amtshilfeersuchen verschicken und den Behörden in Bayern auf die Füße steigen. Aber sein Gefühl signalisierte ihm, dass dies nicht nötig war.
Die Jungs sagten die Wahrheit.
Wenn zwei Leute unabhängig voneinander eine detaillierte Lügengeschichte auftischten, verwickelten sie sich unweigerlich in Widersprüche. Keine noch so sorgfältige Absprache konnte das vermeiden. Doch in diesen Aussagen gab es keine Widersprüche. Die beiden hatten, was die gestrigen Geschehnisse anbelangte, unabhängig voneinander exakt das Gleiche erzählt.
Dominik zog noch einmal die Karte heran und malte ein Kreuz an die Stelle, wo die zwei Kerle den Golf gefunden hatten.
Ohligser Heide.
Streng genommen gab es zwei Raststätten dieses Namens an der A3. Ost für den nach Norden fließenden Verkehr sowie West für die Reisenden in Gegenrichtung. Harms und Klußmann hatten Ohligser Heide Ost gemeint, denn sie waren von Süden gekommen.
Dominik studierte die nähere Umgebung. In nur einem Kilometer Entfernung vom Rastplatz befand sich der Bahnhof Hilden-Süd. Mit der S1 dauerte es fünfzehn Minuten vom Düsseldorfer Hauptbahnhof bis dorthin.
Nach Haan war es ebenfalls nicht weit. In nordöstlicher Richtung geschätzte fünf Kilometer, eine gute Stunde Fußweg bis zum Haus der Hellers.
Schon wieder Uwe Heller?
Angenommen, der Mann war doch der Kidnapper: Dann hätte er Leonie mithilfe des gestohlen gemeldeten Autos seiner Frau entführt. Nun musste er die Karre loswerden. Über die Auffahrt Haan-Ost und das Hildener Kreuz erreichte er von zu Hause aus im Nu die A3 und die Raststätte.
Aber die auf der Westseite. Um das Auto gegenüber zu parken, hätte er zunächst bis zur Ausfahrt Solingen weiterfahren und dort wenden müssen. Warum so umständlich?
Dann fiel Dominik die Lösung ein: Der
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