Schwarzes Blut: Thriller (German Edition)
Decke geklopft hatte.
Und trotzdem war sie eingeschlafen.
Jetzt war sie wach, ging nackt auf die geöffnete Balkontür zu, schob den Vorhang zur Seite und trat auf den Gitterboden der Feuertreppe. Bei jedem Schritt spürte sie deutlich die kalten Metallrauten unter ihren Füßen. Ihr Blick war klar und scharf, als sie auf die verlassene Straße hinunterkletterte.
Skye, die darum kämpfte, ihr Selbst im Anderen nicht zu verlieren, versuchte verzweifelt, die Oberhand zu gewinnen, ihre Beine stillstehen zu lassen, umzukehren. Vergebens – die Grenze zwischen ihr und dem Eindringling verwischte immer weiter, ihre Angst wurde vom Hunger des Anderen verdrängt und schließlich völlig hinweggefegt.
Sie lief immer schneller – Gebäude flogen vorbei, Sand und Steine wirbelten unter ihren Füßen auf – und hatte das Gefühl, unglaubliche Kraft zu besitzen. Sie hörte ihr animalisches Keuchen, ihre hechelnde Zunge schmeckte die Nachtluft: Erde, Staub, Benzin und einen weit entfernten Waldbrand.
Und Fleisch.
Der Geruch von menschlichem Fleisch drang warm und saftig aus den dunklen Häusern, an denen sie vorbeirannte. Von Nachtschweiß bedecktes Fleisch; in Schnaps mariniertes Fleisch; Fleisch, an dem der Geruch von Sex klebte; saures, vom Alter ranziges Fleisch; das süße, zarte Fleisch um die Knochen kleiner Kinder.
Dieses sinnliche Buffet trieb sie weiter an, hinaus in das offene Land, am Wasserturm vorbei, dessen massige Silhouette sich vor dem Silberschein der nächtlichen Wolken abhob.
Endlich war sie wieder so viel Skye, um die fahlen Wände des Hauses zu erkennen, das bis vor Kurzem ihr Zuhause gewesen war. Sie spürte den Mann und den Jungen, die im ersten Stock schliefen.
Skye wollte sich irgendwo festhalten, den Anderen zurückdrängen, doch sie fühlte sich so hilflos wie damals, als sie im Alter von neun Jahren zusammen mit Gene und Marybeth ausgeritten war. Ihr Pferd war durchgegangen, sie hatte die Zügel losgelassen und sich mit Händen und Füßen an das Tier geklammert, bis Gene sie eingeholt, das Zaumzeug gepackt und das Pferd beruhigt hatte.
Keine Kontrolle.
Der Andere kletterte in Sekundenschnelle die Bretterwand hinauf und kauerte auf dem Dach vor Timmys Zimmer. Die Fensterläden standen offen, der Vorhang blähte sich in die Nacht hinaus. Timmy lag in seinem Bett, sein schlafendes Gesicht war unschuldig und völlig ahnungslos. Skye bemerkte eine weitere Präsenz: Gene saß mit dem Rücken zur Wand vor dem Fenster. Neben ihm lehnte eine Schrotflinte. Auch er schlief.
Ein Arm, ein unglaublich starker, muskulöser Arm, streckte sich bereits nach Gene aus. Irgendwie gelang es dem letzten Fragment ihres Selbst, das der Andere noch nicht vereinnahmt hatte, stumm ein halb vergessenes Gebet vor sich hin zu murmeln.
Vater unser, der du bist im Himmel
Geheiligt werde dein Name
Das Gebet ließ den Arm innehalten.
Dein Reich komme.
Dein Wille geschehe,
Wie im Himmel, so auf Erden
Die Worte verloren sich im Klagegeschrei einer Legion von Stimmen, die direkt aus der Hölle zu kommen schienen. Sie roch Gene und Timmy – schmeckte schon ihr Fleisch –, spürte das Holz des Fensterrahmens, als sie mit der Hüfte dagegen stieß. Genes Körperwärme war deutlich sichtbar.
Verzweifelt zwang sich Skye dazu, auch den Rest des Gebets aufzusagen.
Erlöse uns von dem Übel.
Dein ist das Reich
Und die Kraft und die Herrlichkeit
In Ewigkeit.
Amen.
Die Worte versetzten ihr Inneres in Aufruhr, riefen eine Hitze, eine Welle von Zorn und Angst hervor, die so stark war, dass Skye glaubte, sie müsste verbrennen. Doch das Gebet zwang den Körper, der ihr gehörte und auch wieder nicht, zum Rückzug. Er kletterte die Wand hinunter und floh in die Wüste.
Skye war völlig erschöpft. Sie begriff, dass sie mit dem Anderen eine Vereinbarung getroffen hatte: Sie würden fressen, aber nicht Gene und Timmy.
Nicht heute Nacht.
Skye kapitulierte, ließ zu, dass der Andere sie packte, ließ sich durch das weite Feld aus Staub und Gestrüpp zur nahe gelegenen Grenze und darüber hinaus tragen – direkt in den dunklen Zwilling ihrer Heimatstadt. Dieser Ort ähnelte dem anderen wie ein Bild in einem Zerrspiegel, eine Stadt voller Huren und Kaschemmen für Menschenhändler und Drogenschmuggler auf der Durchreise. Anders als sein schlummernder Zwilling war dieser Ort hellwach. Musik dröhnte aus den Saloons, Gelächter erfüllte die Nacht.
Hier war Vorsicht geboten.
Der Andere folgte einem überaus feinen
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