Schwarzes Blut: Thriller (German Edition)
Verhör.
Ihre Antwort war ebenfalls immer dieselbe. »Ich weiß es nicht, Gene. Ich weiß es wirklich nicht.«
Er wandte sich ab. Sein Hemd war völlig verschwitzt, was jedoch nicht an der Hitze, sondern an seiner Angst lag. Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar, und als er sich wieder umdrehte, verpasste er ihr einen Kinnhaken. Skye fiel mit dem Stuhl hintenüber, knallte mit dem Kopf gegen den Betonboden und war einen Augenblick lang benommen.
Mehr Zeit brauchte der Andere nicht. Sie spürte, wie er in ihr aufstieg, und bevor sie ihn zurückdrängen konnte, hatte er die Kette der Handschellen zerrissen, mit der ihre Hände an der Stuhllehne gefesselt waren. Nur mit Mühe konnte sie verhindern, dass er auch noch die Manschetten um ihre Fußknöchel sprengte.
Seit der Vision im Bus hatte sie Timmy nicht mehr vor ihrem inneren Auge sehen können, sosehr sie sich auch bemühte. Auf dem Rückweg nach Hause hatte irgendwann ein Pick-up angehalten, und sie war auf die Ladefläche geklettert, wo sie so getan hatte, als würde sie schlafen. Tatsächlich hatte sie versucht, tief in ihr Innerstes zu tauchen, die unsichtbare Grenze zwischen Skye und Nicht-Skye zu überschreiten. Doch mehr als undeutliche Spuren der Dinge, die sie dank der unheimlichen Gabe des Anderen erspüren konnte, hatte sie nicht erhaschen können – wie Nachbilder der Sonne, wenn man die Lider schloss.
Jetzt schwebte sie im Niemandsland zwischen sich selbst und ihrem Zwilling. Wie leicht es doch gewesen wäre, der Versuchung nachzugeben und die Verwandlung und die damit einhergehende Kraft zuzulassen.
Nur die Angst hielt sie davon ab. Noch hatte sie nicht genug Erfahrung mit dem Anderen. Wer garantierte ihr, dass sie nach der Verwandlung noch auf der Suche nach Timmy sein und nicht einfach ihrem Blutdurst nachgeben würde?
Während sie darüber nachdachte, streckte sich ihre rechte Hand, die von der Stuhllehne verdeckt wurde, nach Genes Stiefel aus. Er stand direkt vor ihr. Wenn sie ihn zu fassen bekam, würde sie ihm das Bein ausreißen und ihn auffressen.
Es klopfte. Gene drehte sich um, durchquerte den Raum, öffnete die Tür, ging hinaus und schloss hinter sich ab. Murmelnde Stimmen waren zu hören, Schritte entfernten sich. Skye gewann die Fassung zurück, schmeckte Blut auf den Lippen, packte den Stuhl, stellte ihn vor die Wand, setzte sich und verschränkte die Finger, sodass es aussah, als wäre sie nach wie vor gefesselt.
Der Schmerz in ihrem Mund war nichts im Vergleich zu den Höllenqualen in ihren Muskeln, Sehnen, Knochen und Nerven – in jeder Zelle –, während sie den Anderen niederrang. Durch schweißnasse Haarsträhnen hindurch sah sie, wie Gene in den Raum zurückkehrte.
Er hatte einen Schlagstock in der rechten und ein feuchtes Handtuch in der linken Hand. Sie beobachtete, wie er das Handtuch um den Stock wickelte. Als er zu ihr aufblickte, begriff sie, dass auch er eine Grenze überschritten hatte.
»Das wird kein gutes Ende nehmen, Skye.«
»Tu’s nicht, Gene. Bitte.«
»Dann rede. Sag mir, was du mit meinem Jungen gemacht hast.«
»Nichts, Gene. Ich schwör’s. Junior Cotton steckt dahinter, ganz bestimmt.«
Er lachte. »Hast du irgendwo die Nachrichten gesehen und willst ihn mir jetzt als Sündenbock verkaufen? Anscheinend hast du nicht mitbekommen, dass er nach Norden unterwegs ist.«
»Gene, wenn ich Timmy tatsächlich entführt hätte – warum sollte ich hierher zurückkehren?«
»Keine Ahnung, Skye. Sag du’s mir.«
Er holte mit dem Schlagstock aus und schlug ihr unmittelbar unterhalb der Brüste auf die Rippen. Sie war immer noch Skye genug, um den Schmerz zu spüren, mit dem eine Rippe brach, und verbiss sich mit letzter Kraft einen Schrei. Schlagartig verschwand der Schmerz. Ihr Körper zitterte auf dem Stuhl, als der Andere sie überwältigte. Ihre Schultern wurden breiter und sprengten die Achselnähte ihres T-Shirts. Die Kette an ihren Füßen war bis zum Zerreißen gespannt.
Es wurde heller, und sie sah alles ganz deutlich, blickte tief in Gene hinein, durch seine Augen auf seine Verzweiflung und seine Furcht. Er hatte keine Angst vor dem, was sie ihm antun konnte, sondern vor dem, was seinem Jungen angetan worden war.
Die Liebe zu seinem Sohn rettete ihm das Leben. Sie sorgte dafür, dass Skye wieder die Oberhand gewann, dass sie die unmenschliche Kraft zurückdrängen konnte, bis sie zitternd und schwitzend und weinend zurückblieb.
»Hör auf, Gene. Du darfst mich nicht mehr schlagen. Noch
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