Schwarzes Blut
ich am wenigsten damit rechne. Glühende Wellen, die wie Lavaströme durch mich hindurchrollen. Ein Würgereiz überkommt mich, und ich muß mich vornüberbeugen und die Augen schließen. In den fünfzig Jahrhunderten meines Lebens habe ich schon hundert schwere Verletzungen erlitten. Warum läßt mich diese hier jetzt nicht in Frieden? Wohl wahr: Ein Leben in ständigem Schmerz, das ist das Leben der Verdammten.
Aber ich war Krishna gegenüber nicht ungehorsam, als ich Ray erschaffen habe – jedenfalls nicht wirklich.
Selbst Yaksha war überzeugt, daß ich noch immer die Gnade des Herrn besitze.
»Mein Gott«, flüstere ich und presse Pauls blutgefüllten Körper an mich, als sei er ein Druckverband, der meine unsichtbare Narbe zudecken könnte. Ich bin nahe daran, das Bewußtsein zu verlieren, doch gerade als ich den beißenden Schmerz nicht länger ertragen kann, vernehme ich Schritte in der Ferne. Schritte, die sich schnell bewegen, mit der Geschwindigkeit und der Kraft, die nur ein Unsterblicher aufbringt. Schlagartig wird mir dies klar und wirkt auf meinen brennenden Schmerz wie ein Schwall eiskalten Wassers. Ein Vampir in der Nähe! Ich springe auf und öffne die Augen. Pauls Kumpel sind fast zwanzig Meter entfernt und ziehen sich immer weiter zurück. Paul schaut mich an, als starre er in seinen eigenen Sarg.
»Ich wollte dir nicht weh tun, Alisa«, murmelt er.
Ich hole tief Luft. Mein Herzschlag dröhnt mir in den Ohren. »Und ob du das wolltest«, gebe ich zurück und jage ihm das Messer tief in den rechten Oberschenkel, gerade über dem Knie. Die Klinge dringt sauber in ihn ein, und ihre Spitze kommt rot und tropfend auf der anderen Seite wieder hervor. Nackte Panik überzieht sein Gesicht, aber ich habe keine Zeit mehr für seine Entschuldigungen. Ich habe Wichtigeres zu tun. Ich lasse von ihm ab, und er fällt wie eine umgeworfene Mülltonne zu Boden. Ich drehe mich um und laufe in die Richtung, aus der die Fußschritte des Unsterblichen zu mir dringen. Mein Messer lasse ich in ihm, damit Paul noch ein bißchen Freude daran hat.
Die Person, hinter der ich her bin, ist knapp fünfhundert Meter entfernt auf den Dächern und springt von Gebäude zu Gebäude. Ich kürze den Weg ab und erklimme dann selbst die Dächer. Mit zwei großen Schritten bin ich auf dem dritten Stock und turne zwischen zerfallenen Schornsteinen und verrosteten Ventilatoren herum. Schließlich sehe ich meine Beute: ein zwanzigjähriger Afroamerikaner mit Muskeln, massig genug, um einen Fernseher zu zerdrücken. Doch hat die Stärke eines Vampirs wenig mit seiner Muskelkraft zu tun. Dessen Macht begründet sich vielmehr auf seiner Reinheit des Blutes, seiner Seelenstärke und seiner Lebenserfahrung. Ich, der ich zu Beginn der Zivilisation von Yaksha, dem ersten aller Vampire, erschaffen wurde, ich bin über alle Maßen stark. Ich springe durch die Luft und weiß, daß ich den anderen Vampir in ein paar Sekunden erwischen kann. Aber ich halte mich absichtlich zurück. Ich will erst mal sehen, wohin er mich führt.
Daß es sich bei meinem Opfer wirklich um einen Vampir handelt, daran habe ich keine Zweifel. In jeder Bewegung wirkt er wie ein neugeborener Blutsauger. Außerdem sondern Vampire einen subtilen Geruch aus: den leichten Geruch von Schlangengift. Und der, der vor mir her rennt, riecht wie eine riesige schwarze Schlange. Kein unangenehmer Geruch, eher berauschend in seiner Wirkung auf die meisten Menschen. Ich habe diesen Duft früher schon oft benutzt, bei Liebhabern wie auch bei Feinden. Ich glaube aber kaum, daß dieser junge Mann hier überhaupt eine Ahnung davon hat.
Aber von mir hat er eine Ahnung. Er weicht einem Kampf aus, läuft weg: Er hat Angst. Das gibt mir zu denken. Woher weiß er von meiner Macht? Wer hat ihm davon erzählt? Meine Fragen sind ähnlicher Art: Wer hat ihn erschaffen? Ich hoffe, daß er sich zu seinem Schöpfer flüchtet. Der Schmerz in meiner Brust hat nachgelassen. Noch immer aber bin ich durstig, noch immer jagdhungrig. Für einen Vampir ist das Blut eines anderen Vampirs ein besonderer Genuß wie ein gut gewürztes, nur leicht angebratenes Steak. Ohne Bedenken folge ich ihm. Und wenn der Kerl noch Verbündete hat? Macht mir doch nichts aus. Ich mache sie alle platt und düse dann in meinem Privatjet nach Oregon zurück, noch bevor die Sonne aufgeht. Mit vollem Bauch und vollen Adern. Einen kurzen Moment denke ich darüber nach, wie es wohl Ray geht – so ganz ohne mich. Er braucht seine Zeit
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