Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Titel: Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lochthofen
Vom Netzwerk:
die Steppe urbar zu machen. Jetzt schlug die Wertschätzung in Neid und Hass um. Hatte man die Hungersnöte der Kollektivierung noch gemeinsam mit den Russen erlitten, bei der nicht nur die Großbauern enteignet wurden, sondern oft genug die letzte Kuh der Witwe in Staatsbesitz überging, bröckelte jetzt das Gemeinschaftsgefühl. Die deutschen Dörfer galten als reich und aufgeräumt. Angesichts des heraufziehenden Krieges mit Hitler-Deutschland gerieten die Wolgadeutschen unter Generalverdacht. Es begann ein Exodus biblischen Ausmaßes. Wer nicht sofort erschossen wurde, füllte die endlosen Menschentrecks nach Sibirien, nach Zentralasien. Viele überlebten den Todesmarsch nicht.
    Doch an diesem Abend waren weder Krieg noch die katastrophale Versorgung ein Thema. Die Gastgeber hatten vorgesorgt. Über Wochen sparten Lotte und Lorenz für das Fest Lebensmittel auf, manches kauften sie zu Wucherpreisen auf dem Basar. Der Tisch bog sich unter der «Sakuska», der typischen Mischung von Speisen, die bei keinem russischen Trinken fehlen durfte. Der Volksmund war davon überzeugt, ohne Sakuska verkommt jede Feier zum Besäufnis. Selbst die härtesten Säufer fanden es unter ihrer Würde, allein und ohne etwas «zum Zubeißen» eine Wodkaflasche zu leeren. Trinken hieß in Russland immer Trinken in Gemeinschaft und mit etwas dazu. Sakuska konnte alles sein: eine saure Gurke, ein Kanten Schwarzbrot oder der Klassiker schlechthin, ein Hering. Bei Lotte und Lorenz gab es an diesem Abend mit Dill und Zwiebellauch dekorierte Teller voller Blini, marinierter Pilze, Tomaten und scharf gebratener Frikadellen. Und über all dem thronte der König aller russischen Flüsse: ein fetter Wolga-Stör. Am Ende blieb kein einziges Stück übrig. Nur die lange Gräte erinnerte daran, dass es ihn gegeben hatte. Selbst der Kopf war verschwunden. Bobik hieß der Dieb, der ansonsten treue Haushund, eine Mischung aus Schäferhund und erster oder zweiter Gasse.
     
    Doch das war gestern. Oder zumindest vor dem Schlaf. Jetzt hämmerte es wie verrückt an die Tür. Man hörte dumpfe Flüche und das Scharren schwerer Stiefel. Lorenz drehte den Schlüssel um, zog den Eisenriegel zurück. Die Tür flog unter einem Fußtritt auf.
    «Was zum Teufel …», schnauzte es ihm ins Gesicht.
    Vor ihm standen zwei Rotarmisten mit dem vertrauten rubinfarbenen Stern auf der Budjonny-Mütze. Diesen wundersamen olivgrünen Tüten auf dem Kopf, die zum Symbol der siegreichen Roten über die Weißen, samt ihren deutschen oder englischen Verbündeten, wurden. Die Soldaten hatten, wütend vom langen Warten, ihre Gewehre im Anschlag. Zwischen ihnen stand ein schwarz gekleideter Mann. Er hielt seine Hand an der offenen Pistolentasche. Auch ohne die schwarze Lederjacke, die Stiefel und die ebenfalls mit einem roten Stern versehene Schirmmütze wäre klar gewesen, um welchen Besuch es sich handelte.
    «Grashdanin Longofen?», fragte der Mann in Schwarz und schob Lorenz beiseite, ohne die Antwort abzuwarten.
    «Bürger Lochthofen», übersetzte Lorenz automatisch im Kopf. Allein diese Anrede zeigte ihm, dass er nicht mehr Teil eines großen Ganzen, sondern ausgestoßen war. Das Kollektiv der «Genossen», das den Rhythmus des Lebens im Land bestimmte, hatte sich von ihm abgewandt. Um diesen «Bürger» wehte es jetzt kalt und teilnahmslos.
    Der Mann in der Lederjacke trat festen Schritts in das Zimmer. Auf dem Korridor blieb es still. Der Hausmeister, der offenbar die Außentür aufgeschlossen hatte, hielt sich im Hintergrund. Kein Mitbewohner schaute aus der Tür. Alle wussten Bescheid. Ab morgen war ein Zimmer zu vermieten.
    «Packen Sie ein paar Sachen und kommen Sie mit.»
    Der Geheimdienstler sprach die Worte gereizt und herablassend aus. Jede Bewegung ließ erkennen, der Vorgang war Routine. Er musste den Soldaten nichts befehlen, sie mussten ihn nichts fragen. Der eine schob Lorenz mit dem Gewehrkolben tiefer ins Zimmer, der andere schloss die Tür.
    Lorenz fragte mit gepresster Stimme, was gegen ihn vorliege, ob er den Haftbefehl sehen könne.
    «Das erfahren Sie in der Zentrale.»
    Die Antwort des NKWD-Offiziers kam prompt und klang wie einstudiert: «Wir halten nichts von dieser bürgerlichen Zettelwirtschaft!» Sicher wusste der Mann nur den Namen und die Adresse dessen, den er mitbringen sollte. Den Rest übernahmen die Genossen vom örtlichen NKWD-Quartier. Das Kommissariat für Inneres hatte die Nachfolge der Staatlichen Politischen Verwaltung (GPU) und der

Weitere Kostenlose Bücher