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Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Titel: Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lochthofen
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Hauptsache, sie verschwand aus der Hauptstadt. Nadeshda Krupskaja mochte die Eskapaden der jungen Leute nicht.
    Trotz Lottes Flucht von der Moskwa an die Wolga blieben die Verhältnisse ungeklärt. Der Umstand, dass Lena Friedrichs Kind und Larissa das von Lorenz war, schien noch am übersichtlichsten. Lorenz, dem die schöne Frau schon in Moskau aufgefallen war, musste sie in Engels nicht lange suchen. Theater, Universität, sie begegneten sich überall, verliebten sich. Heirateten an einem Wochentag, ganz proletarisch in der Mittagspause, und suchten sich ein kleines Haus, als Larissa geboren wurde. Lotte hatte eine letzte Dollar-Reserve, so konnten sie es bezahlen.
    Ihrem rauschhaften Sommer folgten ebenso leidenschaftliche Zerwürfnisse. Friedrich fand die Turbulenzen der Jungvermählten eher erbaulich, eben Ausdruck überschäumender Leidenschaft. Worüber er sich in Briefen an Freunde auch offen ausließ. Das fiel ihm umso leichter, da mit der Hochzeit seine Verantwortung für die junge Frau und seine Tochter Lena auf Lorenz übergegangen war. Dass Lotte zwischendurch nach Moskau zu Friedrich abdampfte, um dann geläutert nach Engels zurückzukehren, trug bei Lorenz nicht gerade zur Vertrauensbildung bei. Wenn man ihr zuhörte, wollte man gerne glauben, dass in der Tat nichts passiert sei. Wenn man Wolf kannte, fiel einem das deutlich schwerer.
    Lorenz war ein durch und durch romantischer Mann. Aber nicht blöd. Der schnellen Hochzeit folgte die eilige Scheidung. In Sowjetrussland machte man um derlei Formalitäten nicht viel Aufhebens. Keine Fragen, keine Erklärungen, ein amtlicher Stempel beglaubigte die Trennung. Lorenz verließ türenknallend das Haus, nahm sich ein Zimmer, um dann jeden Tag wie ein braver Ehemann mit Blumen zur Familie zu eilen. Wenn schon nicht Lottes Temperament, so hielten ihn doch Larissas blaue Augen.
    Deine, meine, unsere. War das die freie Liebe? Die freie Liebe, von der die Revolutionäre immer träumten? Vor allem die männlichen. Selbst ein Lenin hatte eine Schwäche dafür. Der Bruch mit aller bürgerlichen Tradition des Zusammenlebens? Die Absage an alles, was einengte, auf Dauer band, erpressbar machte? Und doch nur Verantwortung hieß. Freie Liebe? Lorenz hätte sich da auf nichts festlegen wollen. Es hatte sich so ergeben. Das komplizierte Knäuel ihrer Beziehungen sah aus der inneren Sicht weniger aufregend aus. Zumal die Scheidung ganz praktische Vorteile bot, redete er sich ein. Falls einer verhaftet würde, konnte sich der andere um die Kinder kümmern. Ein naiver Gedanke.
     
    An diesem Abend hatten sie feiern wollen. Die Einheimischen, die Kollegen, sie mochten den jungen Redakteur aus Deutschland. Das passierte nicht oft. Das Verhältnis zwischen den Deutschen von der Wolga und den Zugereisten war nicht gut, die «Reichsdeutschen» galten als überheblich. Wer von der Komintern, der kommunistischen Weltzentrale, aus Moskau kam, besaß meist Anspruch auf die guten Posten. Das konnte den Alteingesessenen in Engels nicht gefallen. Auch wenn die Neuen vielleicht zehnmal gebildeter waren, mit ihren Universitätsabschlüssen glänzten. Warum ihnen nun gerade Lorenz als willkommen galt, darüber konnte auch er nur spekulieren. Vielleicht gefiel ihnen die offene Art, seine Herkunft aus einer Bergarbeiterfamilie im Ruhrgebiet. Gesagt hat es ihm keiner, offiziell gab es das Thema nicht. Jedenfalls wussten seine Kollegen, dass sich der einstige Schlosser vor dem Studium an der Moskauer Westuniversität auf den Baustellen im Kohlerevier des Donbass und im Kaukasus nicht geschont hatte. Manchmal erzählte Lorenz vom Brückenbau am Kuban, wie sie in der Höhe hingen, notdürftig von Seilen gesichert, unter ihnen der reißende Fluss.
    So kamen sie am Abend, um einen der Ihren zu feiern. Kollegen, Freunde aus dem Theater, Mitarbeiter des Verlages, in dem Lotte eine Arbeit gefunden hatte. An der langen, mit weißen Bettlaken bedeckten Tafel saß fast die gesamte Redaktion. Das war nicht selbstverständlich. Lorenz galt nach seiner Entlassung als Aussätziger. Wer zu ihm kam, riskierte einiges.
    Die «Nachrichten», die deutschsprachige Zeitung der Wolgarepublik, war für die meisten Einheimischen die einzige Möglichkeit, täglich etwas in ihrer Muttersprache zu lesen. Wohltuend in einer Welt, die ihnen zunehmend mit Misstrauen begegnete. Ganze Generationen hielten es für einen Segen, dass Katharina die Große einst Bauern aus der Pfalz, aus Baden oder Hessen ins Land geholt hatte,

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