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Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Titel: Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lochthofen
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Außerordentlichen Kommission, der Tscheka, des ersten Staatssicherheitsdiensts der Sowjetmacht, angetreten. Diese Tradition sollte später der KGB ungebrochen fortsetzen.
    Der Geheimdienstler riss die Tür des einzigen Schranks im Zimmer auf, nach und nach flog dessen Inhalt auf den Boden. Hemden, Hosen, Jacken … Lorenz schaute stumm zu. Er dachte daran, dass Lotte ihn zum Frühstück erwartete, ihn und Friedrich. Doch das würden sie wohl jetzt allein einnehmen müssen. Lotte und Wolf.
    Lorenz holte den Koffer unter dem Bett hervor, packte Wäsche und einen dicken Pullover ein. Auf die Frage, für wie lange die Sachen reichen sollten, kam die trockene Antwort:
    «Sie brauchen nur das Nötigste. Dort, wohin wir Sie bringen, ist für Sie gesorgt.»
    Der Mann in der Lederjacke schaute nun das Bücherbord über dem Bett durch. Lorenz wusste, was er suchte. Und einiges davon stand auf dem Brett. Lenin, Marx und Luxemburg bedeuteten keine Gefahr. Aber Kautsky? Dazu noch in deutscher Sprache? Irgendwie hätte man es vielleicht erklären können. Lenin hatte sich viel mit dem «Renegaten» herumgeschlagen, Quellenstudium wäre also eine Begründung, etwas schlicht zwar, aber immerhin. Bei Sinowjew und Bucharin, zwei überführten «Abweichlern», der eine zu «links», der andere zu «rechts», gab es dagegen nichts zu erklären. Den einen erschossen sie nach einem Schauprozess, obwohl er Stalin bei seinen Intrigen gegen Trotzki tatkräftig unterstützt hatte, der andere wartete darauf, dass mit ihm das Gleiche geschah. Wer Bücher von beiden in seinem Haus hatte, konnte kein guter Genosse sein.
    Einen Band nach dem anderen warf der Mann vom Bücherbrett. Doch weder Bucharin noch Sinowjew schienen ihn zu interessieren. Lorenz konnte das nicht verstehen. Für einen Moment vergaß er fast die Bedrohlichkeit der Situation, gebannt schaute er zu, wie seine Bücher bewertet wurden. Nur ein einziges dünnes Heft blieb in den Händen des Geheimdienstlers und wurde für wichtig genug befunden, um mitgenommen zu werden: Reden und Aufsätze J. W. Stalins aus den zwanziger Jahren.
    Ungläubig sah Lorenz den NKWD-Mann an. Stand jetzt auch Stalin auf dem Index? Das passte nicht zusammen. Hatte seine Verehrung nicht längst alle bis dahin bekannten Dimensionen gesprengt, ja religiöse Formen angenommen? Nun sollte also selbst der Führer aller friedliebenden Völker ein verbotener Autor sein? Vielleicht war der NKWD-Mann ja übergeschnappt. Stalin verdächtigen? Unmöglich. Lange genug hatte er selbst zu jener kritiklosen Masse gehört, die, wenn es um die Schuld an all den grausamen Vorgängen ging, sie namenlosen Funktionären zuschrieb, aber nicht doch «Väterchen» Stalin. Das war vorbei. Dennoch konnte sich Lorenz das Verhalten des NKWD-Mannes nicht erklären.
    Erst viel später sollte er begreifen, warum gerade dieses unscheinbare, in grauen Umschlagkarton gepresste Büchlein unbedingt aus der Öffentlichkeit zu verschwinden hatte. Es stammte aus der Zeit, als Stalin öffentlich Buße tun musste. Nach Lenins vernichtender Kritik in seinem als «Testament» bekannten Brief, in dem er die Grobheit und den Machtmissbrauch des Georgiers offen anprangerte, gelobte dieser Besserung. Stalin gestand Fehler ein, schwarz auf weiß. Davon konnte in der Sowjetunion des Jahres 1937 keine Rede mehr sein.
    Als Lorenz sich angezogen hatte, drängten ihn die Wachleute zum Ausgang. Sie wollten offensichtlich weg sein, noch ehe die ersten Hausbewohner zur Arbeit gingen. Zeugen, Fragen, Aufsehen, das mochten sie nicht. Kaum traten sie aus der Haustür, ließ der LKW-Fahrer den Motor heulen. Doch in keinem Fenster der umliegenden Häuser flackerte Licht auf. Neugier konnte in diesen Zeiten tödlich sein. Auch so wusste jeder, was da gerade geschah. Lorenz wandte sich zögernd an den Offizier.
    «Sie haben mich den Geburtstag seelenruhig feiern lassen und sind erst am Morgen gekommen. Warum?»
    «Wir sind doch keine Unmenschen!»
    Der NKWD-Mann grinste, die Soldaten bedeuteten dem Gefangenen, endlich in den vergitterten Kasten zu steigen.
    Der «Schwarze Rabe» setzte sich knatternd in Bewegung.
    Eine kurze Fahrt. Das Auto bog ein letztes Mal ab, dann hörte man die Flügel eines Eisentors aufeinanderschlagen. Die Soldaten sprangen aus dem Wagen. Lorenz fand sich auf einem von Scheinwerfern grell erleuchteten Hof. Obwohl sich der Tag gerade erst zaghaft über den Dächern andeutete, herrschte aufgeregte Geschäftigkeit. Er war offensichtlich

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