Schwarzes Prisma
Schwingen in die Nacht verschwand.
Nach und nach erfüllte der Friede der Nacht auch Kip. Die Oberfläche des Flusses wurde so glatt wie ein Spiegel, und die Sterne leuchteten darin. Er sah Enten, die sich am Ufer zusammenkauerten, die Köpfe in ihre Flügel geschoben. Und dann betrachtete er noch einmal den Mann, der angeblich sein Vater war.
Gavin Guile war muskulös, breitschultrig, aber ebenso schlank, wie Kip fett war. Kip suchte nach irgendeiner Ähnlichkeit, nach einem Hinweis darauf, dass dies wahr sein könnte. Gavin hatte eine hellere Haut und sah aus wie eine Mischung zwischen einem Ruthgari, der grüne oder braune Augen hatte, dunkles Haar und olivfarbene Haut, und einem Blutwäldler mit kornblumenblauen Augen, flammend rotem Haar und totenbleicher Haut. Gavins Haar hatte die Farbe von poliertem Kupfer, und seine Augen waren natürlich die eines Prismas. Wenn er wandelte, nahmen sie jede Farbe an, die er gerade benutzte, und konnten sich binnen eines Moments verändern. Wenn er nicht wandelte, schimmerten Gavins Augen, als seien sie selbst Prismen, und jeden Augenblick lief eine neue Abfolge von Farben über seine Iris. Es waren die beunruhigendsten Augen, die Kip je gesehen hatte. Es waren Augen, vor denen Könige sich wanden und Königinnen in Ohnmacht fielen. Die Augen von Orholams Auserwählten.
Kips Augen waren von einem simplen Blau, das nichts Besonderes war, nur dass es ihn als einen Mischling auswies. Vielleicht dem Nachfahren eines Blutwäldlers. Wie die meisten Menschen hatten Tyreaner dunkle Augen. Kips Haar war so dunkel wie das eines Tyreaners, aber leicht gelockt wie das eines Parianers oder eines Ilytaners, statt glatt oder nur gewellt zu sein. Es genügte, um ihn zu etwas Widernatürlichem zu machen, aber es genügte nicht einmal ansatzweise, um ihn als den Sohn dieses Mannes auszuweisen. Natürlich hatte auch seine Mutter nicht das Aussehen einer Tyreanerin gehabt, was die Dinge lediglich verkomplizierte. Dunkle Haut, krauses Haar und haselnussbraune Augen. Kip versuchte sich vorzustellen, wie das Kind seiner Mutter und dieses Mannes vielleicht aussehen würde, aber es gelang ihm nicht. Vermische genug Bastarde miteinander, und wer weiß, was herauskommen wird? Wenn er nicht so fett gewesen wäre, hätte er es vielleicht gesehen. Vielleicht war es einfach ein grausamer Trick. Eine Lüge.
Das Prisma. Das Prisma persönlich? Wie konnte ein solcher Mann Kips Vater sein? Er hatte gesagt, er habe nicht einmal von Kips Existenz gewusst. Wie konnte das sein?
Die Antwort schien auf der Hand zu liegen. Es war während des Krieges gewesen. Gavins Armee war nicht weit von Rekton auf die von Dazen getroffen. Also hatte Gavin Lina kennengelernt, als sie durch die Stadt gekommen waren. Er war das Prisma und möglicherweise auf dem Weg in den Tod. Sie war ein junges, hübsches Mädchen, dessen Stadt zerstört worden war. Sie hatte sein Bett geteilt. Dann war er fortgegangen, um seinen Bruder zu töten – vielleicht schon am nächsten Tag –, und in den Nachwehen des Krieges, dem Wiederaufbau und dem Bemühen, den Rest der Rebellion niederzuschlagen, Allianzen erneut aufzubauen und den Frieden zu verwalten, hatte er wahrscheinlich nie wieder an sie gedacht. Selbst wenn er es getan hatte, war Tyrea damals nicht gerade der freundlichste oder sicherste Ort für das Prisma gewesen. Das Land hatte sich auf die Seite von Dazen geschlagen, auf die Seite des bösen Bruders, und war infolgedessen grausam behandelt worden.
Vielleicht hatte Gavin Lina auch vergewaltigt. Aber das ergab keinen Sinn. Warum sollte ein Vergewaltiger Kip als seinen Sohn fordern? Vor allem, weil es Gavin offensichtlich eine Menge kostete, das zu tun.
Kip konnte sich seine Mutter vorstellen, schwanger, unverheiratet, zurückgelassen in den Trümmern dessen, was Rekton gewesen war. Natürlich hätte sie fliehen wollen. Kip wäre ihre einzige Hoffnung gewesen. Was hätte sie getan? Wäre sie allein nach Garriston gereist, wo die Sieger Tyrea verwalteten? Das konnte er sich durchaus vorstellen. Seine Mutter, die sich irgendeinem Gouverneur präsentierte und verlangte, Gavin Guile zu sprechen, weil sie seinen Bastard unterm Herzen trug. Sie hätte sich glücklich schätzen können, wenn sie mit dieser Geschichte auch nur bis zu einem Gouverneur vorgedrungen wäre … Also hatte man sie abgewiesen und ihre Träume von irgendetwas Gutem in ihrem Leben zerstört.
Wann immer sie Kip angeschaut hatte, hatte sie nicht ihre eigenen
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