Schwarzes Verlies (German Edition)
stürzte er sich sofort.
Dieser Tage weigerte sich Cronus, sich im Himmel aufzuhalten, wenn ihn nicht eine Armee zu seinem Schutz umringte. Aber ein Mann, der mit seiner eigenen Ehefrau im Krieg lag, konnte auch nicht vorsichtig genug sein. Vor allem, wenn diese Frau eine Königin mit mächtigen Kräften und Verbündeten war. Eine Frau, die …
Schwindel erfasste Atlas, seine Gedanken zerstreuten sich, und er runzelte die Stirn. Doch er hielt nicht an, bis er das Ende des Vliesteppichs erreicht hatte. Unverwandt hielt er seine Aufmerksamkeit auf Cronus gerichtet, so benebelt er auch sein mochte. Was war nur mit ihm los?
Der König saß auf einem Thron aus massivem Gold. Dunkle Strähnen durchzogen sein silbernes Haar, und sein Bart war dünner geworden, seit Atlas ihn das letzte Mal gesehen hatte. Sogar einige Falten waren von seinem wettergegerbten Gesicht verschwunden. Er trug ein weißes Gewand, ganz ähnlich wie die Gefangenen im Tartarus. Schon oft hatte Atlas sich gefragt, warum.
Zwei mögliche Erklärungen kamen ihm in den Sinn. Cronus hatte ein solches Kleidungsstück jahrhundertelang getragen, vielleicht fühlte er sich einfach wohl darin. Oder er wollte nicht vergessen, was ihm einst widerfahren war – und erneut widerfahren konnte, wenn er nicht aufpasste. Atlas hingegen war mehr als froh gewesen, sein weißes Gewand ablegen zu können. Würde Nike dasselbe tun, wenn sie jemals wieder freikam? Nicht, dass sie das würde.
Du denkst schon wieder an sie.
Eine Frau stand neben dem Thron. Ihr Gesicht war eines der langweiligsten, die Atlas je gesehen hatte, und ihre Haut war blass und mit Sommersprossen übersät. Dunkles, lockiges Haar fiel über ihre schmalen Schultern auf einen spindeldürren Körper. Von ihr ging keine machtvolle Aura aus. Vielmehr wirkte sie … unwirklich. Beinahe durchsichtig. Anwesend, aber irgendwie flimmernd. Ihre Augen waren verschattet, leer, als wäre niemand zu Hause.
Als sie sich eine Locke aus der Stirn strich, konnte er sie nur mit offenem Mund anstarren. Die Grazie ihrer Bewegung war Ehrfurcht gebietend. Elegant, als würde sie tanzen, und zarter als ein Schmetterlingsflügel. Da war definitiv jemand zu Hause, es interessierte die Frau bloß nicht, was um sie herum geschah.
Atlas riss seine Aufmerksamkeit von der Unbekannten los und sah sich im Thronsaal um. Tausende Kronleuchter hingen von der Kuppeldecke, über und über behängt mit glitzernden Kristalltropfen. Ein vielfarbiger Glimmer erfüllte die Luft. Seltsam, dachte er und legte den Kopf auf die Seite, um besser sehen zu können. Die Luft hier roch sogar süß nach – tief atmete er ein – Ambrosia. Ah. Jetzt verstand er sowohl das Schwindelgefühl als auch das Schimmern in der Luft. Im Raum wurde pulverisierte Ambrosia zerstäubt. Um ihn gefügig zu machen?
„Atlas, Gott der Stärke“, sprach ihn Cronus mit einem Nicken an und riss ihn aus seinen Gedanken.
Atlas verbeugte sich, wie es sich gehörte. „Mein König. Es ist eine Ehre, dass Ihr mir diese Audienz gewährt.“
Cronus beugte sich vor, die glänzenden Augen von Sorge erfüllt. „Im Tartarus ist alles in Ordnung, oder?“
„Natürlich.“
Sofort wich die Beunruhigung auf Cronus’ Gesicht Erleichterung. „Warum hast du dann um dieses Treffen gebeten?“
Niemand hasste die Griechen mehr als dieser Mann, Herrscher der Titanen, und mit gutem Grund. Sie hatten ihm seine Macht genommen, ihn vor seinem Volk erniedrigt. Selbst Nike hatte ihren Teil dazu beigetragen.
Sag’s einfach. Bring’s hinter dich. „Ich möchte eine Frau aus dem Gefängnis holen und sie …“
„Stopp. Sag kein Wort mehr.“ Mit finsterem Blick hob Cronus eine Hand. „Niemand wird aus dem Tartarus geholt. Das ist zu gefährlich.“
Diese Antwort hatte er erwartet. Doch er blieb hartnäckig. „Es könnte das Risiko wert sein. Ich würde sie in meinem Haus gefangen halten, Eure Majestät. Ich würde ihr zu keinem Zeitpunkt das Halsband abnehmen …“ Na ja, außer um sie in sein Haus zu bringen, denn während sie es trug, konnte sie nicht aus dem Tartarus teleportiert werden. Aber er würde es ihr in derselben Sekunde wieder anlegen, in der sie ihr Ziel erreichten. „… ich würde sie zu meiner persönlichen Sklavin machen. Ich würde dafür sorgen, dass sie leidet.“ Die erste Lüge des Tages, aber vermutlich nicht die letzte. Alles, wofür er sorgen wollte, war Nikes Ekstase.
Hatte er ihr vergeben, was sie ihm angetan hatte? Er war sich nicht sicher. Alles,
Weitere Kostenlose Bücher