Schweig still, mein Kind / Kriminalroman
permanenten Angst gelebt, entdeckt zu werden.« Ehrlinspiel trank einen Schluck Tee. »Ich kann das nachvollziehen – was nicht bedeutet, dass ich es gutheiße. Gar nicht. Er hat Bruno missbraucht. Das ist niederträchtig.« Er blickte auf seine Hände, die auf dem Tisch lagen und von denen er nicht wusste, wohin damit.
»Für Elisabeth muss das der Horror gewesen sein. Das Kind der besten Freundin tot. Ein Bruder der Mörder. Der andere der Totengräber und der Handlanger des ersten. Sie selbst Mitwisserin, zerrissen zwischen der Loyalität zu Sina und den Banden der Familie. Kein Wunder, dass sie das nicht ertragen hat und geflohen ist.«
»Deshalb hat sie ihr Testament zu Sinas Gunsten gemacht. Elisabeth hat nie vergessen, immer an die Freundin gedacht. Und die wusste tatsächlich von nichts.« Sein schlechtes Gewissen gegenüber Sina plagte ihn, vermengte sich mit den Kopfschmerzen. »Und als Elisabeth dann selbst schwanger war, hat sie neuen Lebensmut geschöpft und Glück gespürt. Das hat ihr Ehemann erzählt. Vielleicht hat sie sich aus dieser Empfindung heraus stark genug gefühlt, ihre alten Freunde und den Vater wiederzusehen. Sein Geburtstag war ein willkommener Anlass, ins Dorf zu reisen.«
»Dann hat sie Sina getroffen und gesehen, was Felix’ Tod für Folgen nach sich gezogen hatte. Und sie verstand, was es bedeutet, ein Kind zu verlieren. Sie beschloss, reinen Tisch zu machen. Hermann wollte sie einbeziehen, ihm nicht als Verräterin in den Rücken fallen. Also hat sie ihm bei dem gemeinsamen Abendessen berichtet, was sie vorhat.« Hanna Brock sah in der Gaststube umher. »An einem dieser Tische haben sie gesessen. Vor einer Woche.«
Ehrlinspiel nickte. »Hermann wollte sie von dem Plan abbringen, ging aus der Gaststube, sah Johannes kommen. Er wartete ab. Seine Schwester und Johannes kamen heraus, er folgte ihnen. Nachdem die beiden sich nahe bei Beyers Hof verabschiedet hatten, passte er Elisabeth ab.« Er dachte an die Kreuzung, wo er im Regen gestanden und versucht hatte, den letzten Weg der jungen Frau nachzuvollziehen. Schwarzengrund Ecke Pfarrgasse. Irgendwo dort hatte Hermann gelauert und sie in die Schlucht gelockt. »Vielleicht hat er Elisabeth erklärt, mit ihr den einstigen Unglücksort aufsuchen zu wollen, dort gemeinsam zu entscheiden, was zu tun sei.«
»Aber sie hat nicht nachgegeben.« Hanna schloss ihre Hände fest um die Tasse.
»Und als er seine Zukunft ruiniert sah, überfielen ihn Panik und Zorn, er hat zugeschlagen und Bruno beauftragt, sie zu beerdigen.«
»Wie damals bei Felix«, ergänzte Hanna.
»Hermann suchte seinen Bruder auf, der war bei der alten Bertha. Wie jeden Mittwoch. Die Alte schlief, Hermann hatte leichtes Spiel. Und Bruno, Gehorsam gewohnt, zog los in die Schlucht.« Bloß warum hatte er die Geflügelschere dabei? Hatte er von Anfang an geplant, nur das Baby zu beerdigen? Weil er es so gelernt hatte, früher? Konnte Bruno so weit planen? Autisten können keine größeren Zusammenhänge herstellen, hatte Larsson gesagt.
Plötzlich musste Ehrlinspiel lächeln. Larsson hatte ihn vor einer guten Stunde angerufen. Der Rechtsmediziner war auf dem Weg in die psychiatrische Landesklinik Emmendingen gewesen, wohin man Bruno heute Nacht zurückgebracht hatte. Nicht wegen Bruno, hatte Larsson betont, sondern wegen eines Gutachtens in einem anderen Fall. Aber wenn er schon mal dort sei … Ehrlinspiel hatte ihn vor sich gesehen, mit leicht erhobenem Kopf und geschürzten Lippen, den Blick teilnahmslos auf die Straße geheftet. Dann hatte der Kommissar dem Mediziner, der noch nichts von den Ereignissen gehört hatte, berichtet, was in der Nacht geschehen war. Woraufhin der geantwortet hatte: »Tja, in der Situation dürfte Bruno für ein vernünftiges Gespräch umso dankbarer sein. Natürlich ist meine Zeit knapp bemessen, aber ich werde sehen, ob ich ein paar Minuten erübrigen kann.«
Ehrlinspiel beobachtete die dichten Flocken, die vor dem Fenster herabschwebten. Laut fuhr er fort: »Johannes hat geahnt, dass Hermann der Mörder ist, wollte ihn zur Rede stellen … und hat das Gespräch mit ihm ebenfalls nicht überlebt. Bruno, abermals mit der Beseitigung der Leiche beauftragt, war überfordert. Wie hätte er Johannes auch zur Gasfabrik schaffen und mit der Stickstoffprozedur zerkleinern sollen?«
»Oder er verstand nicht, warum er einen, der nicht zur Familie gehörte, beerdigen sollte.«
»Felix hat auch nicht zur Familie gehört«, wandte Ehrlinspiel
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