Schweig still, mein Kind / Kriminalroman
ein.
Hanna drehte die Tasse in den Händen und starrte auf die braune Flüssigkeit. Dann hob sie den Blick und sah ihn mit ihren dunklen Augen direkt an. »Doch. Bruno ist Felix’ Vater.«
Ehrlinspiel schaute Hanna Brock an. »Wie bitte?« Ein Autist, dem man nicht näher als zwei Katzenlängen kommen konnte, ohne Panik bei ihm auszulösen, soll mit einer Frau geschlafen haben?
»Sina hat es mir heute Nacht gesagt. Als sie an dem Ast hing und glaubte, sie würde sterben. Sie bat mich, Bruno zu sagen, dass sie ihn vermissen würde da oben im Himmel. Und dass er gut auf sich aufpassen soll.«
Der Druck zwischen Ehrlinspiels Augen nahm zu. Langsam begriff er. »Bruno hat sein eigenes Kind nach dem Verfahren beerdigt, von dem diese schwedische Biologin sagt, dass es das Leben erhält. Er hat das alles getan, um das Leben seines Kindes fortzusetzen. Die Rosen …«, er rieb sich die Nasenwurzel. »Sie hatten recht! Er meinte gar nicht Sina damit! Er meinte Felix – den er darunter beerdigt hat.«
»Genau. Deshalb hat er Sina immer die Rosensträuße gebracht, seit Felix verschwunden war. Als Symbol für das Leben ihres gemeinsamen Kindes. Um ihr zu sagen, dass Felix fortlebt.«
»In den Blüten der Rosa Osiria. Weiß mit rotem Rand.« Was für ein verrückter Kerl. Und wie tiefgründig auf seine Weise. Ehrlinspiel erinnerte sich an den Strauß auf Sinas Ladentheke. Den Zusammenhang hatte er nicht gesehen.
»Die Rosen wachsen irgendwo in der Schlucht. Ich konnte sie nicht finden gestern. Ich hätte so gern das Grab aufgespürt. Für Sina.«
Bertha hat er auch Blumen aus der Schlucht gebracht, in der Mordnacht, dachte Ehrlinspiel und sagte: »Das Gelände ist weitläufig. Der Wald dicht. Es wäre extrem schwierig, die Stelle zu finden. Und wozu? Wir könnten kaum beweisen, dass Felix dort liegt. Nach zehn Jahren dürfte nicht mehr viel übrig sein. Zumal wenn er zu Granulat verarbeitet wurde.«
»Mhm.«
»Allerdings«, wandte Ehrlinspiel ein, »wird Sina dann keinen Ort zum Trauern haben. Kein Grab, an dem sie mit Felix Zwiesprache halten kann.«
»Nicht alle brauchen das«, sagte Hanna. »Felix lebt seit zehn Jahren in Sinas Herzen. Vielleicht genügt ihr das Wissen darum, und es ist gut, wenn er still dort ruhen bleibt, wo er ist.«
Der Kriminalhauptkommissar nickte und hoffte, dass Sina ihrem Sohn nicht in den Tod folgen musste. Seine Gedanken wanderten zu Bruno. »Möglicherweise«, sagte er mehr zu sich selbst als zu Hanna, »wollte er für das Kind seiner Schwester das Gleiche tun wie für sein eigenes. Elisabeth selbst konnte er nicht mehr begraben, denn Sie sind vorher«, er hob die Hände, »quasi über sie gestolpert. Zum Glück, in dem Fall. Was er mit Johannes gemacht hätte, werden wir nie erfahren.« Er sah auf ihre Koffer. »Was werden Sie jetzt tun?«
Sie sog die Lippen ein. »Mein Leben in Ordnung bringen.«
Er nickte.
»Und Sie?«
»Berichte schreiben. Aktenberge abarbeiten. Meine beleidigten Kater mit Streicheleinheiten versöhnen. Geld in der nächsten Apotheke ausgeben.« Und dich ein bisschen vermissen, Hanna, fügte er in Gedanken hinzu.
»Kochen Sie etwas?«
»Kochen?« Seine Augenbrauen schnellten in die Höhe, und er spürte das Ziehen der genähten Platzwunden.
»Für die Kater.«
»Ach so. Ja.« Er schmunzelte. »Schade, dass Sie keine Katzen mögen.«
»Wer sagt das?«
»Sie. Sie haben doch so pikiert dreingeblickt, als ich das mit den Marmeladenbroten erzählt habe.«
Sie winkte ab. »Ich habe einfach keine Erfahrung mit Haustieren. Ich weiß nicht einmal, ob ich sie mag oder nicht.«
»Meine Kater sind jedenfalls reizender als die Friedas dieser Welt.«
»Was passiert mit ihr eigentlich? Ist das nicht Beihilfe, was sie da gemacht hat?«
Ehrlinspiel presste die Finger zwischen seine Augen. »Nichts passiert. Sie ist weder Täterin noch Mittäterin. Nur Mitwisserin. Und sie ist die Mutter von Bruno. Die Briefe an Sina werden keine Konsequenzen haben, und die haben wir ja nicht einmal. Wir können ihr Verhalten moralisch noch so verurteilen – laut Gesetz dürfen wir sie nicht strafrechtlich verfolgen.«
Hanna schwieg, und Ehrlinspiel fiel ein, dass er sich in dem Chaos nicht von Monika Evers verabschiedet hatte. Er würde sie später anrufen. Die junge Polizistin hatte einen prima Job gemacht.
Genau in ihr beider Schweigen trat Willi hinzu, zwei prall gefüllte Papiertüten und eine frische Tasse Tee in den Händen. »Für den Herrn Kommissar.« Er stellte die
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