Schweig still, mein totes Herz (German Edition)
lenkte den Wagen von der Interstate. Da morgen ein Feiertag war, rechnete bei der Arbeit sowieso niemand vor Dienstag mit ihr. Verflucht, selbst dann würde vermutlich keinem auffallen, ob sie überhaupt da war – oder wenn, dann wäre es ihnen auch egal.
Als sie in Duck, North Carolina, ankam, war es schon fast neun. In der Nebensaison war auf den Outer Banks anscheinend fast jedes Geschäft geschlossen; sie hatte Glück, ein winziges mexikanisches Restaurant in einem kleinen Einkaufszentrum an der Hauptstraße nördlich von Duck zu finden, in dem noch Licht brannte. Die Kellnerin und die Köchin, ganz offensichtlich ein Mutter-Tochter-Gespann, sahen ihr gleich an, wie erschöpft sie von der langen Reise war und verköstigten sie voller Mitleid mit den besten Ceviche-Fisch-Tacos, die sie je gegessen hatte.
»Wo übernachten Sie?«, fragte die Tochter, die etwas besser Englisch sprach.
»Heute? Das weiß ich noch nicht. Gibt es ein Hotel in der Nähe?« Entlang der kurvenreichen Straße, die sich über die Düneninsel zog, hatte sie bislang nur Eigentumswohnungen und Villen gesehen.
Die Kellnerin sprach mit ihrer Mutter auf Spanisch, die daraufhin nickte und in der Küche verschwand. Kurz darauf kam sie mit einem Zettel und einem Schlüssel zurück.
»Unser Cousin ist Makler, er vermietet Eigentumswohnungen, Häuser«, erklärte die Tochter. »Wir machen dort sauber, bevor ein neuer Gast kommt. Er sagt, Sie können so lang bleiben, wie Sie wollen – zum Familienpreis.«
Caitlyn schüttelte den Kopf. Anscheinend gab es in jeder Familie einen Onkel Jimmy. »Danke. Ich werde nur zwei Nächte bleiben. Glaube ich«, fügte sie hinzu und dachte darüber nach, wie es wohl wäre, am Strand zu leben. »Ich habe nicht viel Bargeld dabei, kann ich mit Kreditkarte zahlen?«
»
Si
,
si
. Das Bett ist bereits frisch bezogen. Lebensmittel bekommen Sie heute keine mehr, aber das
Food Lion
macht morgen früh um neun Uhr wieder auf.«
»Sie kommen klar?«, fragte die Mutter mit besorgtem Blick. »Allein?«
»Kein Problem.« Caitlyn bezahlte, hinterließ ein großzügiges Trinkgeld und stand auf.
»Sie kommen wieder!«, rief die Mutter und wedelte mit der Schürze. »Morgen zu Mittag. Ich mache Ihnen Besonderes.«
»Danke. Das werde ich.«
Ihre Unterkunft, eine Doppelhaushälfte, hatte zwei großzügig geschnittene Zimmer und lag nur eine Straße vom Strand entfernt. Zwar konnte sie das Meer von ihrem Balkon aus im Dunkeln nicht erkennen, aber sie hörte es. Die Luft war frisch, schwerer als die Bergluft, immer noch kühl, aber sie versprach Sonne statt Wolken und Schnee. Nachdem sie die Kissen für die Liege auf dem Balkon gefunden hatte, nahm sie auch noch das Deckbett aus dem Schlafzimmer mit nach draußen, mummelte sich ein, lauschte den Wellen und versank in Gedanken.
Über das Meeresrauschen hinweg hörte sie die Stimme eines Mannes, der ihren Namen rief. Caitlyn kämpfte sich hoch und war einen Moment lang orientierungslos. Dad?
Sie schüttelte die Benommenheit ab. Der Mond stand direkt über ihr und schien auf den Strand jenseits des Hofes. Die Flut war da, sie konnte nun das wogende Meer sehen, kleine Schaumkronen glitzerten im Mondlicht.
»Caitlyn!«
Sie schaute nach unten in den Hof. Eine vertraute Gestalt stand vor dem verschlossenen Tor auf der anderen Seite des Zauns. »Goose?«
»Kann ich reinkommen?«
Sie stürzte die Treppen hinunter und ließ ihn rein. »Was suchst du denn hier? Wie hast du mich gefunden?«
»Der GPS -Tracker in deinem Wagen. Ich bin nie dazu gekommen, ihn abzunehmen.« Er schaukelte auf die Fersen zurück, die Hände in den hinteren Taschen seiner Jeans vergraben. »Bist du mir böse deswegen?«
Sie überlegte kurz. Eigentlich hatte dieser Moment nur ihr und ihrem Vater gehören sollen, dennoch machte es ihr seltsamerweise nichts aus, dass Goose jetzt hier war. Die Lücke, die ihr Vater in ihrem Leben hinterlassen hatte, fühlte sich mit einem Mal nicht mehr so schmerzhaft groß an.
Für die Psychofritzen in Quantico wäre das wahrscheinlich ein Freudentag, aber das war ihr egal. Sie nahm ihn an der Hand und führte ihn vom Tor über den Bürgersteig durch die Dünen bis hin zum Ozean. »Nein. Bin ich nicht. Aber wieso bist du überhaupt gekommen?«
»Du hattest recht, was den Geldtransporter anging. Wir haben sie alle geschnappt. Sie werden mich nach Washington schicken. Großes Geschworenengericht, Nachbesprechungen … das volle Programm. Jetzt versuche ich herauszufinden,
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