Schweig wenn du sprichst
ist alles in Ordnung. Nur das Knie tut weh. Zeig mir lieber schnell die Fotos meiner Enkelin. Du hast doch welche dabei, hoffe ich?«
»Ich habe welche dabei, aber ich brauche erst ein Glas Wasser. Bleib ruhig sitzen, ich komme gleich zu dir.«
»Ich sitze den ganzen Tag. Es gibt kaltes Bier im Kühlschrank. Oder möchtest du lieber ein Glas Wein?«
»Später vielleicht. Erst Wasser, danke.« Victor lief durch die Küche zum Esstisch. Dort verbrachte seine Mutter den größten Teil ihrer Zeit. Die Kreuzworträtsel lagen aufeinandergestapelt neben ihrer Brille. Ein Stift, die bekritzelte Zeitung und eine leere Kaffeetasse.
»Und wie geht es Lilly? Erholt sie sich gut von der Entbindung? Stillt sie noch? Du weißt, dass du das Stillen abgelehnt hast. Du als Einziger von euch allen.«
»Lilly macht sich sehr gut. Sie gönnt sich Ruhe und genießt Moira und die neue Situation zu Hause. Ich lege die Fotos hier auf den Tisch, okay? Ich muss kurz pinkeln.«
Er stellte das Glas auf den Tisch und verließ die Küche. Auf dem Weg zur Toilette fiel im auf, wie unangenehm es im Haus roch. Abgestanden und muffig.
»Aber das bist du! Ganz du!«, rief sie aus der Küche. »Ganz du und dein Vater!«
Victor kam zurück und setzte sich Martha gegenüber an den Tisch.
»Nun ja, ein bisschen was hat sie schon von unserer Seite.«
»Und groß ist sie!«
»Das hat sie von Lilly.«
»Aber wir sind doch auch nicht wirklich klein!«, korrigierte Martha ihn.
»Oma, glaub mir, im Vergleich zu allen Brüdern und Schwestern von Lilly sind wir Zwerge!« Er sah, dass seine Mutter denselben Hausmantel trug, den sie schon seit Jahren anhatte. Hellblau und etwas ausgefranst an den Enden. Er beschloss, einen neuen für sie zu kaufen.
»Ich habe dein altes Zimmer fertig gemacht. Frische Laken und Handtücher. Ich kann mir vorstellen, dass du müde bist.«
»Ich fühle mich gut. Ich habe während des Fluges kurz geschlafen.«
»Hast du Hunger? Soll ich dir ein Butterbrot machen?«
»Nein, wirklich nicht, ich habe am Flughafen gegessen.«
Sie betrachtete die Fotos aufmerksam und nahm sich Zeit, jedes zu kommentieren. Victor ging inzwischen durch das restliche Haus. Im Wohnzimmer öffnete er den Schrankflügel, hinter dem normalerweise die Spirituosen aufbewahrt wurden. »Hast du noch Whisky?«, rief er.
»Wenn es noch welchen gibt, steht er da, wo er immer steht. Aber dein Onkel Charles ist kürzlich vorbeigekommen, und der bedient sich selbst. Deshalb weiß ich nicht, ob noch etwas übrig ist.«
»Wie geht es ihm?«
»Alt und kaputt. Alle um mich herum sterben. Ich habe das Gefühl, dass er auch einfach darauf wartet, bis sie ihn holen kommen.«
Es stand fast nichts mehr im Schrank. Bis auf eine alte Flasche Asbach Uralt und einen verschlossenen Elixir d’Anvers waren alle anderen Flaschen leer. Er schaute sich im Wohnzimmer um. Er sah, dass es nur ein einziges Foto von seinem Vater im Haus gab. Dieses Foto war auch auf der Todesnachricht gewesen, erinnerte er sich. Bilder von Kindern und Enkeln. Er erkannte auch seine Großeltern von beiden Seiten der Familie, seine Schwester mit ihren Kindern im Urlaub. Je mehr er sich umsah, desto mehr realisierte er, dass im Grunde auch sonst nichts auf seinen Vater hinwies, abgesehen von dem einen Foto.
Er nahm auf dem Rückweg zur Küche die leeren Flaschen aus dem Schrank und klemmte sie sich unter den Arm. »Na, na, Oma. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Charles die alle allein ausgetrunken hat.«
»Ach, hör auf. Du weißt, dass ich fast nichts trinke. Komm, gib her. Ich stelle das zum Altglas.«
»Was hast du mir am Telefon erzählt? Du willst Vaters Bibliothek auflösen?«
»Ich sperre einen Teil des Hauses ab. Es ist zu groß, zu teuer zum Heizen und im Unterhalt. Es ist besser, wenn die Bücher nicht verschimmeln. Ihr könnt euch aussuchen, was ihr wollt. Wenn nur alles wegkommt.«
»Dann werde ich sie mir heute Abend mal anschauen, wenn das in Ordnung ist.«
»Ich gehe sowieso in einer halben Stunde schlafen. Ich sitze nebenan und schaue die Nachrichten, und dann gehe ich ins Bett. Du siehst müde aus. Für mich musst du nicht aufbleiben. Frühstück so gegen acht?«
»Acht Uhr ist gut. Ich habe ein Taxi für neun bestellt.« Victor wünschte seiner Mutter eine gute Nacht und nahm seinen Koffer mit in sein Zimmer. Dort riss er sofort die große Terrassentür auf und ging mit dem Handy nach draußen. Er sog die frische Abendluft durch die Nase und wählte Lillys Nummer.
Sie
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